Zwischen jetzt und immer
»Oh!«
Ich wusste, was sie dachte, hörte Kristys Stimme in meinem Kopf:
Bäng!
»Kennst du den?« Caroline starrte Wes wie gebannt an.
»Äh, ja«, antwortete ich. Nachdem wir uns alle gegenseitig gesehen hatten, war mir klar, dass mich jetzt nichts mehr retten konnte, egal wie viele Topflappen oder Hängematten den Weg versperrten. Also kapitulierte ich und hakte mich bei Caroline unter: »Komm.«
Während wir uns zu Wes hinüberschlängelten, hatte ich genügend Zeit, mir die Skulpturen anzuschauen. Mir fiel auf, dass keine Herzhand dabei war, sondern ein anderes Motiv dominierte: Engel mit Heiligenscheinen. Die kleineren Skulpturen ähnelten Stockpuppen, nur hatte Wes sie aus Metall, nicht aus Holz gemacht, mit Gesichtern aus Zahnrädern, Fingern und Zehen aus winzigen Nägeln. Über jedem Kopf hing ein kreisförmiges Gebilde aus unterschiedlichen Materialien und mit unterschiedlicher Struktur. Ein Heiligenschein war beispielsweise mit bunten Glasscherben besetzt, aus einem anderen ragten lange Zimmermannsnägel in verschiedene Richtungen – ein Medusa-Engel. Bei der großen Skulptur, der mit dem VERKAUF T-Schild , rankte sich Stacheldraht um den Heiligenschein, ähnlich wie bei der gigantischen Herzhand, die am Sweetbud Drive stand. Ich musste plötzlich an Myers denken, die Einrichtung für straffällig gewordene Jugendliche. Wie der Stacheldraht dort sich um den Zaun gewunden hatte. Genau so. Als wärendie Gitterstangen mit spitzem, gezacktem Schleifenband umwickelt.
»Hallo«, meinte Wes, als wir bei ihm ankamen. »Dacht ich mir, dass du das bist.«
»Hi«, sagte ich.
»Die sind ja irre.« Caroline streckte die Hand aus und ließ ihre Finger an dem großen Zahnrad entlangfahren, das den Bauch der Figur bildete. »Ich liebe diese Art von Materialien.«
»Danke«, erwiderte Wes. »Kommt alles vom Schrottplatz.«
»Das ist Wes«, sagte ich, während Caroline bewundernd um die Skulptur herumlief. »Wes, das ist meine Schwester Caroline.«
»Freut mich dich kennen zu lernen«, sagte Caroline mit ihrer Smalltalk-Stimme und reichte Wes die Hand. Doch nachdem die beiden sich kurz die Hände geschüttelt hatten, fuhr Caroline augenblicklich mit ihrer eingehenden Betrachtung der Skulptur fort. Sie nahm sogar die Sonnenbrille ab und beugte sich vor, um besser sehen zu können. »Das Besondere und besonders Schöne hieran ist der Kontrast.« Sie redete wie bei einer Museumsführung. »Der komplementäre Gegensatz zwischen Motiv und Material.«
Wes warf mir einen leicht befremdeten Blick zu. Ich schüttelte nur den Kopf. Wenn meine Schwester auf die Tour erst mal losgelegt hatte, war sie nicht mehr zu bremsen. Schließlich war Kunst im College ihr Hauptfach gewesen.
»Im Prinzip kann jeder darauf kommen, Engel zu gestalten«, sagte sie zu mir, als stünde Wes nicht daneben und hörte zu. »Aber entscheidend ist, wie bei diesen Skulpturen die Wahl des Materials die Aussage transportiert. Engel geltenvon Natur aus als vollkommene Geschöpfe. Doch indem der Künstler sie aus unvollkommenem Werkstoff erschafft, aus verrosteten Bruchstücken, aus Abfällen und Schrott, drückt er etwas über die Fehlbarkeit selbst der vollkommensten Wesen aus.«
»Wow«, sagte ich zu Wes, während Caroline sich den kleineren Skulpturen zuwandte und dabei anerkennend vor sich hin murmelte. »Ich bin schwer beeindruckt.«
»Ich auch«, antwortete er. »Ich hatte keine Ahnung, dass es so ist. Als ich anfing Skulpturen zu machen, konnte ich mir einfach nichts anderes leisten als Metall vom Schrottplatz.«
Zu meiner eigenen Überraschung musste ich lachen. Und war dann noch überraschter – nein, geradezu geschockt –, als Wes mich plötzlich anlächelte. Das Lächeln eines Herzensbrechers. In dem Moment existierte wirklich nichts anderes mehr als genau dieser Moment: ich und Wes an einem Sonntag, umgeben von Engeln und Sonnenschein.
»Wahnsinn«, rief Caroline und holte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. »Hast du für das Gesicht hier eine Metallplatte verwendet?«
Wes blickte zu ihr hinüber. Sie hockte vor einer Figur, deren Heiligenschein aus Kronkorken bestand.
»Das war ursprünglich ein altes Werbeschild für Coca-Cola. Habe ich im Sperrmüllcontainer entdeckt und rund zugeschnitten«, antwortete er.
»Ein Werbeschild für Coca-Cola«, wiederholte sie ehrfürchtig. »Und die Kronkorken . . . die unvermeidliche Vermischung von Religion und Kommerz. Das finde ich klasse, ziemlich klasse!«
Wes nickte. Er
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