Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Zwischen Krieg und Terror

Titel: Zwischen Krieg und Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Tilgner
Vom Netzwerk:
der Unmut der Iraker über die ungelösten Probleme.
    Den im iranischen Exil aufgebauten Schiitenorganisationen beschert das Machtvakuum eine Gelegenheit, auf die sie mehr als zwei Jahrzehnte gewartet haben. Denn unter der Herrschaft der Baath-Partei waren sie politisch und gesellschaftlich marginalisiert. Vor Ort bilden aus der Islamischen Republik zurückgekehrte Kader Komitees, um die Alltagsversorgung der Bevölkerung zu sichern. Innerhalb von Tagen entstehen im Südirak und in den Schiitenvierteln Bagdads neue Strukturen. Geistliche, die sich jahrelang zurückhalten mussten, werden nun als politisch-religiöse Leitfiguren akzeptiert. Mit ihrer Ablehnung von Plünderungen und der Aufforderung, Beutegut in den Moscheen abzugeben, leisten die islamischen Rechtsgelehrten einen wichtigen Beitrag zur Beruhigung der Situation.
    In relativ kurzer Zeit haben sich die Schiiten im ganzen Land neu organisiert. Die Militärverwaltung nimmt diese Entwicklung nicht wahr, sie wertet die sich andeutende Normalisierung der Lage irrigerweise als Erfolg der verstärkten Präsenz eigener Truppen. Damit leistet sie sich eine gefährliche Fehleinschätzung, wie sich schnell erweisen wird. Denn in Wirklichkeit herrscht eine Atmosphäre, in der die Alliierten nicht als Helfer beim Neuaufbau, sondern als mächtige Eindringlinge und Störenfriede gesehen werden - eine Situation, die bald in einen bewaffneten Widerstand gegen sie mündet.
    Vor allem bei den Sunniten sind die US-Truppen alles andere als willkommen. Im Gegensatz zu den Kurden und den Schiiten fühlen sich die Sunniten durch die Amerikaner keineswegs befreit, da sie im alten Regime extreme Privilegien genossen haben. Es sind zumeist ehemalige Beamte und Mitglieder der Streitkräfte und Geheimdienste, die den Verlust ihrer während der Herrschaft der Baath-Partei angeeigneten Pfründe befürchten. Zudem wissen die Anhänger des alten Regimes, dass Saddam Hussein und viele seiner Führungskader - entgegen allen Spekulationen der Alliierten - den Krieg überlebt haben und seit der Besetzung Bagdads im Untergrund Widerstandszellen aufbauen. Die Angst vor Racheakten seitens der einstigen Funktionäre steigt. Einfache Beamte lehnen es ab, mit der US-Zivilverwaltung zusammenzuarbeiten.
    In dieser Situation angespannter Ruhe trifft der neue, von Washington entsandte Zivilverwalter Paul Bremer eine Entscheidung, die in ihrer Tragweite auch heute noch nicht verstanden wird. Am 26. Mai, sieben Wochen nach dem Einmarsch der US-Truppen, demonstrieren irakische Offiziere öffentlich für einen Neuanfang. Sie bieten der amerikanischen Zivilverwaltung ihre Zusammenarbeit an. Saheb Al-Mussawi, einer der Offiziere und der Sprecher der Demonstranten, nennt deren Hauptanliegen: »Wir fordern die schnelle Bildung einer Regierung, die Wiederherstellung der Sicherheit, Wiedereinsetzung der öffentlichen Institutionen und die Zahlung der Gehälter an alle Soldaten.« 2 Es folgt ein bedeutendes Ultimatum, das die US-BEAMTEN hinsichtlich seiner etwaigen Folgen völlig unterschätzen: »Sollten unsere Forderungen nicht berücksichtigt werden, so wird es am kommenden Montag zu einem Bruch zwischen der irakischen Armee und der Bevölkerung auf der einen und den Besatzern auf der anderen Seite kommen.« Andere Offiziere werden deutlicher. »Wir werden eine neue irakische Armee mit dem Namen ›Bewaffnete Front gegen die Besatzung‹ bilden«, erklärt Assam Hussein Il Naem. »Neue Angriffe gegen die Besatzer werden von uns geleitet.« 3
    Bremer reagiert mit beispielloser Arroganz und begeht einen Fehler historischen Ausmaßes. Geblendet vom militärischen Erfolg seiner Landsleute und auf Empfehlung der - mit den US-TRUPPEN ins Land gekommenen - irakischen Exilpolitiker ordnet er die Entlassung der Mitarbeiter des irakischen Verteidigungsministeriums und von etwa 400 000 Berufssoldaten und -offizieren an, ohne seine Maßnahme mit einem soliden Abfindungsprogramm abzufedern. Möglicherweise spielt auch ein psychologisches Element in der Entscheidung Bremers eine Rolle. Seine Ernennung erfolgte auf Druck des US-Außenministeriums, das die Ablösung des Vertreters aus dem Washingtoner Pentagon, James Garner, eines Militärs also, durch einen Zivilisten anstrebte. Mit diesem Schritt wollte Washington im Irak und weltweit demonstrieren, dass man an einer möglichst zügigen Einführung ziviler

Weitere Kostenlose Bücher