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Zwischen Krieg und Terror

Titel: Zwischen Krieg und Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Tilgner
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Verhältnisse interessiert war. Bremer war erst zwei Wochen zuvor in Bagdad eingetroffen. Seine Maßnahmen sieht er als Teil einer »Entbaathifizierung«, mit der er die neuen Strukturen des Landes von alten Entscheidungsträgern säubern will. Ihm dürften die gesellschaftlichen Auswirkungen seiner Anordnung, das irakische Militär aufzulösen, nicht bewusst gewesen sein. Denn es sind davon auch Offiziere betroffen, die nicht der Baath-Partei angehört haben. Gerade für sie bedeutet die Maßnahme des Repräsentanten der USA eine bittere Enttäuschung, weil viele irakische Kommandeure den Aufrufen der USA gefolgt waren und während des Einmarschs der Koalitionstruppen keinen Widerstand geleistet hatten. Brigadekommandeur Amer Abdul Ameer bezichtigt die USA des Wortbruchs: »Die Amerikaner erfüllen nicht das, was sie uns in Flugblättern versprochen haben, die sie vor dem Krieg abgeworfen haben. Wenn wir gewollt hätten, hätten wir kämpfen können. Doch wir haben die Waffen niedergelegt und sind abgehauen - und das nicht aus Angst, sondern damit die Amerikaner uns von einem ungerechten Regime befreien.« 4 Das irakische Hilfszentrum, eine von der Zivilverwaltung gebildete Abteilung, sagt für die kommenden 30 bis 45 Tage »spektakuläre« Anschläge voraus und sieht sich prompt in seiner Prognose bestätigt. Anderthalb Jahre später wird die Verfügung Bremers von der provisorischen irakischen Regierung aufgehoben werden. Doch da es ist schon zu spät, ein großer Teil der Entlassenen hat bereits Schlüsselpositionen im Widerstand inne. Auch unter US-Offizieren hat sich zu der Zeit, im November 2005, die Einsicht durchgesetzt, dass Bremer mit seiner Entscheidung viele Tausende von Soldaten und Offiziere dazu gebracht habe, sich den Aufständischen anzuschließen.
    Die Auflösung der Armee macht 400 000 Männer arbeitslos. Während deren Ehefrauen zum Beispiel als Lehrerinnen mit enormen Gehaltserhöhungen bedacht werden, schrumpft die Besoldung der entlassenen Offiziere auf ein Minimum. Wenn überhaupt, erhalten sie Rentenzahlungen von umgerechnet dreißig Dollar, das sind nur zehn Prozent ihrer bisherigen Bezüge. Ein solches Einkommen reicht natürlich nicht aus, um die notwendigsten Ausgaben einer mehrköpfigen Familie bestreiten zu können. Die Bewohner ganzer Stadtteile, in denen Offiziere und Soldaten angesiedelt wurden, stehen vor dem Ruin. In diesen Tagen beschweren sich viele der ehemaligen Mitarbeiter des einstigen Presseministeriums bei mir und bitten um Unterstützung, weil Bremer auch ihre Behörde aufgelöst hat und die Beamten und Angestellten nun auf der Straße stehen. Natürlich bringen die Betroffenen kein Verständnis für diese Vorgehensweise auf. Viele sehen sich als Opfer eines Willkürakts der Besatzer.
    Auf dem Paradies-Platz von Bagdad und vor dem Eingang zur Grünen Zone, dem größten Palastareal der Stadt, kommt es täglich zu unterschiedlichsten Demonstrationen. Angehörige von Kriegsopfern, Obdach- und Arbeitslose verlangen lautstark nach Unterstützung. Die Besatzungsmacht sieht sich mit einer Flut von Forderungen konfrontiert. Da die Ministerien nicht arbeiten, wird die US-Verwaltung für jeden Missstand verantwortlich gemacht. In ihren Büros im Palastbezirk haben die Beamten aus den USA, die über die Zukunft Iraks entscheiden, nicht die geringste Vorstellung vom Leben der Stadtbewohner. Bagdad ist ein Hexenkessel mit anhaltenden Stromausfällen, fehlender Müllabfuhr, schlechter Wasserversorgung und zusammengebrochenem Bildungs- und Sozialsystem.
    Auch den aus dem Exil zurückgekehrten Oppositionspolitikern fehlt ein reeller Bezug zur Situation der Menschen im Land. Die meisten von ihnen arbeiten im Umfeld der US-Beamten oder haben sogar die Villen ehemaliger Minister bezogen, in denen sie sich von amerikanischen Soldaten bewachen lassen. Nicht Iraker, sondern Mitarbeiter ausländischer Firmen werden mit der Planung neuer Sicherheitssysteme beauftragt. 5 Vor der Bevölkerung, wenn sie denn überhaupt direkten Kontakt zu der neuen politischen Elite sucht, türmen sich kaum zu überwindende Barrieren auf. Von der Unbefangenheit der ersten Tage nach dem Sturz Saddam Husseins ist bereits einen Monat später nur noch wenig zu spüren. Oft sind Professoren oder auch ehemalige Offiziere nicht mehr bereit, mir Interviews in ihren Wohnungen zu

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