Zwischen Krieg und Terror
direkte Verhandlungen und persönliche Begegnungen eingedämmt werden konnte, sondern durch Gewaltausbrüche noch eskalierte, weià die US-Armeeführung auch in Bagdad nicht den Ernst der Lage einzuschätzen. Die Offiziere sehen nur das Chaos in der Hauptstadt. Dabei richten sich die dortigen Demonstrationen meist nicht direkt gegen die Besatzungsmacht, sondern Unzufriedene fordern sauberes Wasser, die Zuteilung von Wohnraum oder Arbeit. Die Soldaten verstehen - schon sprachlich - nicht, was in den StraÃen vorgeht.
Während in den Provinzen auf Demonstranten geschossen wird, erklärt Ex-General Jay Garner, der Direktor des Pentagonamts für Wiederaufbau und humanitäre Hilfe, seine Sicht der Dinge: »Ja, ja, da gibtâs einige Demonstrationen, aber das ist der Schritt Richtung Demokratie. Es ist ihnen erlaubt, zu demonstrieren.« 9 Daran wird deutlich, wie wenig der Amerikaner, der doch eine für den Wiederaufbau Iraks herausragende Stellung bekleidet, die Situation zu beurteilen vermag. Die drei Millionen Schiiten in Bagdad sehen die US-Soldaten zunächst einmal als Befreier vom Regime Saddam Husseins, von dem sie unterdrückt wurden. Sie wünschen zwar deren Abzug, aber sie beteiligen sich nicht am bewaffneten Widerstand. Stattdessen nutzen sie das neue Demonstrationsrecht, um für ihre Forderungen auf die StraÃe zu gehen, oder auch nur, um in der Ãffentlichkeit zu beten.
In der Sunnitenregion im Nordwesten des Landes ist die Lage anders. Hier wurde nicht geplündert, und Anhänger Saddam Husseins sind nicht gezwungen zu fliehen oder sich in den Untergrund abzusetzen, weil sie keine Angst haben müssen, für Verbrechen während der Diktatur ermordet zu werden. Hier können sie ungestört den Widerstand gegen die US-Truppen organisieren. Die ehemaligen Mitglieder der Baath-Partei wissen genau, wie Untergrundzellen organisiert werden. Sie haben Geld und Zugang zu geheimen Waffendepots. Innerhalb weniger Wochen gelingt es ihnen, ganze Landstriche im Nordwesten Iraks unter ihre Kontrolle zu bringen.
Im April 2004 erreicht die Gewalt im Irak eine neue Stufe. Anhänger Saddam Husseins nutzen Demonstrationen, um aus ihnen heraus auf US-Soldaten zu schieÃen. In den kommenden Wochen bilden sich Untergrundzellen, deren Mitglieder Anschläge auf einzelne Soldaten oder Konvois der Amerikaner verüben. Ein neuer Krieg hat begonnen. In den Sunnitenregionen Iraks entsteht eine Front, zu der sich mit den Anhängern des alten Regimes auch Vertreter wichtiger Stämme, bekannte sunnitische Geistliche und der Al Kaida nahe stehende Terroristen zusammenschlieÃen. Diese Kräfte kooperieren in den einzelnen Städten in völlig unterschiedlicher Weise. Wer den gröÃten Einfluss im Gebiet besitzt, der entscheidet über das Vorgehen. Es bildet sich eine Allianz, deren Zusammenhalt einzig und allein dem Ziel, die ausländischen Truppen aus Irak zu vertreiben, zu verdanken ist.
Oft dauert es Monate, bis militante Gruppierungen die Macht in einem Gebiet übernehmen. In Rawah, einer kleinen, dreihundert Kilometer nordwestlich von Bagdad gelegenen Stadt, sind die Funktionäre der Baath-Partei in den Tagen nach dem Einmarsch der US-Truppen in Bagdad ihrer Posten enthoben worden, und islamische Komitees beginnen allmählich damit, sich der Kontrollfunktionen zu bemächtigen. Da die Zahlungen für die Beamten aus der Provinzhauptstadt Ramadi nur noch unregelmäÃig eingehen und Mittel für neue Projekte fehlen, büÃt die Stadtverwaltung ihre Bedeutung ein. Es gibt noch einige Polizisten, die den Verkehr überwachen, doch praktisch ist die Stadt bereits im Sommer in Händen der Komitees. Sie entscheiden, wer sich in Rawah bewegen darf und wer von den Kontrollposten an den ZugangsstraÃen abgewiesen wird. Nähern sich beispielsweise US-Truppen, die wenige Kilometer weiter südlich stationiert sind, so wird das islamische Komitee von Wachposten über Funk informiert. Dank dieses Frühwarnsystems können MaÃnahmen zum Empfang von Fremden getroffen, Verhaftungen verhindert und Zeit für die Vorbereitung von Anschlägen gegen die US-Soldaten gewonnen werden. Die Effizienz dieses Systems erleben mein Team und ich neun Monate nach dem Sturz Saddam Husseins bei einem Treffen mit Mitgliedern des Komitees von Rawah. Plötzlich entschuldigen sich die älteren Männer und verlassen das Gebäude der Stadtverwaltung.
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