Zwischen Krieg und Terror
Bürgerkrieg erlebt. Hossein Albiati ist mit seiner Familie aus dem Al-Huriya-Quartier geflohen. Er ist überzeugt, dass es Kräfte gibt, die Zwietracht dort säen wollen, wo Sunniten und Schiiten friedlich nebeneinander leben. Bilden Schiiten die Mehrheit, so setzen sie alles daran, die Sunniten zu vertreiben, und umgekehrt. Meist reichten bereits Drohungen, damit die Familien aufgäben, erzählt Hossein Albiati. »Plötzlich hängt ein Zettel an der Tür, auf dem steht: âºHau ab, du bist kein Moslem.â¹ Beide Seiten machen das Gleiche«, empört er sich. Oft gingen Familien aber erst, wenn Tote vor den Türen lägen.
Hossam Al Najar hat von Mitte April bis Mitte Mai das Haus seiner Eltern jeweils nur noch für Stunden verlassen. Seinen Schilderungen kann ich glauben, denn Hossam hat unser Team mehrfach durch Irak chauffiert, und dabei war auf seine Aussagen stets Verlass. Er ist Fotograf und lebt mit den Eltern und fünf Geschwistern in Adel, einem Viertel im Westen Bagdads. Nach der Sprengung des Samarra-Schreins hatte die gesamte Familie ihr Haus für einige Tage geräumt, denn in der Nachbarschaft waren Sunniten und Schiiten mit Waffen übereinander hergefallen. Die Sunniten waren aus diesem Konflikt als Sieger hervorgegangen und kontrollierten seither die StraÃen in Adel.
Mitte März waren die Al Najars zurückgekehrt, da sich die Situation offenbar beruhigt hatte. Bereits drei Wochen später waren die Kämpfe wieder ausgebrochen und auch in Adel Menschen ermordet worden. Sunnitische Aufständische und die Schiitenmilizen aus dem benachbarten Viertel hatten einander bekämpft und Angehörige der jeweils anderen Glaubensrichtung terrorisiert. Ende Mai hatten sie dann einen Toten vor der Haustür gefunden. Diesmal war den Al Najars eindeutig klar geworden, dass es keine schnelle Rückkehr mehr geben würde. Hossam lebt seither in seinem Geschäft, ein Bruder ging nach Basra, in die Geburtsstadt seiner Frau, und die Eltern zogen mit den anderen Geschwistern zu Verwandten aufs Land. So wird Viertel für Viertel in Bagdad durch die Anhänger der jeweils stärkeren Glaubensrichtung gesäubert.
Auch in Basra, der zweitgröÃten Stadt Iraks, werden Andersgläubige vertrieben. Dort sind Sunniten die Leidtragenden. Spätestens wenn sie die Botschaften schiitischer Todesschwadrone an ihren Türen lesen, wissen sie, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt. Tote in anderen Vierteln oder gar in ihrem Wohnblock verleihen den Warnungen bitteren Ernst. Auf einem der Zettel stehen nur wenige Worte: »Wir haben es euch mehr als einmal gesagt, und heute ist es das letzte Mal: Ihr müsst Basra verlassen, und zwar für immer, weil dies eine Stadt der Schiiten ist.« Auf das Blatt ist das Bild einer Kalaschnikowpatrone kopiert. Die Bewohner fliehen, weil sie nicht das Schicksal anderer, die sich weigerten, ihre Häuser aufzugeben, teilen wollen. Allein in Basras Stadtteil Zubayr werden im Juni sechzig Sunniten umgebracht.
Der Bürgerkrieg wird verdeckt geführt. Zäh und beharrlich versuchen die Aufständischen oder die Milizen, ihren jeweiligen Einflussbereich zu vergröÃern. Nur in den Morgenstunden ist es ruhig, damit die Bewohner der umkämpften Stadtteile zum Einkaufen gehen können. Bereits am frühen Nachmittag trauen sich nur noch wenige auf die StraÃen. Die Stunde der Bewaffneten hat wieder geschlagen. Und die kassieren zunehmend Schutzgelder und treten als Beschützer oder Wächter auf. Polizisten lassen sich in diesen Gegenden kaum noch blicken. Wer hinter den Mordaktionen steckt, wissen nur die wenigsten. Der Kampf der Glaubensrichtungen dient auch dazu, alte Rechnungen zu begleichen.
Viele der Familien werden verjagt, weil ehemalige Besitzer zurückkehren, die von Saddam Husseins Geheimdienst in den achtziger Jahren aus ihren Häusern vertrieben wurden. Dabei trifft eine solche Abrechnung mit dem alten Regime völlig Unbeteiligte, die ihr Haus, das sie räumen sollen, manchmal erst vor wenigen Jahren gekauft haben. In einzelnen Fällen wird die Rückgabe eingefordert, obwohl das Anwesen in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren fünf-, sechs- oder gar siebenmal den Eigentümer gewechselt hat.
Terroristen nutzen diese Atmosphäre, um den Konflikt mit verdeckten Aktionen anzuheizen. Sie haben die Widerstandsgruppen unterwandert und können morden, ohne dass die wahren Motive
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