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Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars

Titel: Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Augen betrachtet hatte, erschien mir der elektrische Stuhl als reale Möglichkeit - so real, dass ich beinahe die Schnallen auf der Haut spüren konnte, während die Lederriemen um meine Handgelenke und Oberarme angezogen wurden.
    Ich würde geschnappt werden, ob ich nun den Mund hielt oder nicht. Das erschien mir unvermeidlich. Er hatte kein Geld, nicht mal sechs Dollar, um den Lastwagen vollzutanken, also würde er marschieren müssen, lange bevor er auch nur Elkhorn erreichte. Wenn es ihm glückte, irgendwo Benzin zu stehlen, würde er gefasst werden, sobald er sich dem Heim näherte, in dem sie jetzt lebte (als Gefangene, wie Henry vermutete; sein unreifer Verstand war nie auf den Gedanken gekommen, sie könnte dort freiwillig zu Gast sein). Bestimmt hatte Harlan der Leiterin - Schwester Camilla - Henrys Personenbeschreibung gegeben. Selbst wenn er die Möglichkeit, der empörte Liebhaber könnte aufkreuzen, wo seine Geliebte hinter Schloss und Riegel saß, nie in Betracht gezogen hatte, würde Schwester Camilla daran gedacht haben. In ihrer Tätigkeit hatte sie bestimmt schon so einige Erfahrungen mit empörten Liebhabern gesammelt.
    Meine einzige Hoffnung war, dass Henry, wenn er in die Fänge der Justiz geriet, so lange schweigen würde, bis er erkannte, dass er nicht auf meine Veranlassung hin, sondern wegen seiner töricht romantischen Vorstellungen geschnappt worden war. Darauf zu hoffen, dass ein Heranwachsender
zur Vernunft kam, glich einer höchst riskanten Pferdewette, aber was blieb mir anderes übrig?
    Als ich auf den Hof fuhr, schoss mir ein verrückter Gedanke durch den Kopf: den Motor laufen lassen, eine Reisetasche packen und nach Colorado weiterfahren. Diese Idee hielt nur zwei Sekunden lang vor. Ich hatte zwar Geld - nämlich 75 Dollar -, aber der T würde liegenbleiben, lange bevor ich bei Julesburg die Staatsgrenze erreichte. Aber das war nicht das Entscheidende; wäre es das gewesen, hätte ich nach Lincoln fahren und dort den T und 60 meiner Dollar gegen einen zuverlässigeren Wagen eintauschen können. Nein, entscheidend war die Farm. Die Heimstätte. Meine Heimstätte. Ich hatte meine Frau ermordet, um sie zu behalten, und würde sie jetzt nicht verlassen, nur weil mein törichter, unreifer Komplize es sich in den Kopf gesetzt hatte, zu einem romantischen Ritterzug aufzubrechen. Wenn ich die Farm verließ, würde es nicht in Richtung Colorado, sondern ins Staatsgefängnis gehen. Wo man mich in Ketten halten würde.
     
    Das Ganze war am Montag vorgefallen. Weder am Dienstag noch am Mittwoch gab es Neuigkeiten. Sheriff Jones kam nicht, um mir mitzuteilen, Henry sei auf dem Highway von Lincoln nach Omaha als Anhalter aufgegriffen worden, und Harl Cotterie kam nicht, um mir (zweifellos mit puritanischer Befriedigung) zu erzählen, die Polizei in Omaha habe Henry auf Schwester Camillas Ersuchen verhaftet und er sitze jetzt im Knast und erzähle wilde Geschichten von Messern und Brunnen und Rupfensäcken. Auf der Farm blieb alles ruhig. Ich arbeitete im Garten, ich reparierte einen Zaun, ich lud Scheffelkörbe mit Gemüse auf einen Hänger, den der T ziehen konnte, ich molk die Kühe, ich fütterte die Hühner - und tat alles wie benommen. Irgendwie glaubte ich, ziemlich fest sogar, dass alles
nur ein langer, schrecklich verworrener Traum war, aus dem ich aufwachen würde, während Arlette neben mir schnarchte und von draußen zu hören war, wie Henry das Holz fürs Morgenfeuer hackte.
    Am Donnerstag kam dann Mrs. McReady - die liebenswerte, füllige Witwe, die an der Hemingford School allgemeinbildende Fächer unterrichtete - mit ihrem eigenen Model T vorbei, um zu fragen, ob mit Henry alles in Ordnung sei. »In der Schule macht eine … eine Magenverstimmung die Runde«, sagte sie. »Ich frage mich, ob er sich wohl vielleicht angesteckt hat. Er ist ganz plötzlich hinausgestürmt.«
    »Er leidet tatsächlich«, sagte ich, »aber er ist liebeskrank statt magenkrank. Er ist weggelaufen, Mrs. McReady.«
    Unerwartete Tränen, brennend und heiß, stiegen mir in die Augen. Ich zog mein Taschentuch aus der Brusttasche meiner Latzhose, aber ein paar liefen mir übers Gesicht, bevor ich sie wegwischen konnte.
    Als ich wieder klar sehen konnte, erkannte ich, dass Mrs. McReady, die es mit allen Kindern - auch den schwierigen - gut meinte, selbst den Tränen nahe war. Sie musste geahnt haben, worunter Henry wirklich litt.
    »Keine Angst, er kommt wieder, Mr. James. Ich habe so was schon mehrfach erlebt

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