Zwischen Pflicht und Sehnsucht
davonschweben. Er trat auf sie zu und nahm ihre Hände. Sein Griff war warm und fest, und sie hatte sich so danach gesehnt, dass er sich fast vertraut anfühlte. „Sophie! Ich kann es kaum fassen! Es ist so lange her.“
„Ja.“ Sie lächelte. „So lange her, dass du mich nicht erkannt hast – gleich zweimal! Wenn ich nicht so froh wäre, dich wiederzusehen, könnte ich mich beleidigt fühlen.“
„Du warst das neulich auf der Straße, und du hast dich nicht zu erkennen gegeben – du Hexe. Wie konnte mir das bloß passieren? Ich hätte wissen müssen, dass nur du mir so unverschämt Kontra geben würdest.“
„Kontra geben? Ich habe dir nur gegeben, was du verdienst. Du hast deine Nase so hoch getragen, dass ich dich kaum wiedererkannt habe.“
Sie wurden unterbrochen, als die Tür sich öffnete und Emily eintrat. „Oh bitte, verzeihen Sie mir“, sagte sie, nachdem sie die Anwesenden begrüßt hatte. „Ich hätte schon vor Ewigkeiten zu Hause sein sollen, aber ich wurde aufgehalten. Ich bin untröstlich, dass ich Sie so vernachlässigt habe. Ich lasse sofort nach Tee schicken.“
Sie klingelte nach der Dienstmagd und ließ sich dann auf dem Sofa neben Lady Dayle nieder. „Also, Lord Dayle, erzählen Sie uns, wie es Ihnen nach dieser absurden Avery-Angelegenheit ergangen ist.“
Charles erblasste und warf Sophie einen argwöhnischen Blick zu. Sein Lächeln war verschwunden, jede Spur von Wärme von ihm gewichen. Er wirkte, als läge das ganze Gewicht der Welt auf seinen Schultern.
„Wenig besser, auch wenn die Wahrheit nun ans Tageslicht gekommen ist“, erwiderte er gepresst. Sein Gesicht war eine Maske der Kontrolle. „Ich ziehe es vor, nicht darüber zu sprechen, Madam.“
„Ich weiß nicht, wer diesen Unsinn überhaupt glauben konnte“, beklagte sich die Viscountess. „Als hättest du Interesse an so einer scheußlichen alten Schachtel.“
„Mutter“, schalt Charles.
„Tut mir leid, mein Lieber, aber es ist wahr. Lord Avery und seine Gemahlin feinden sich schon seit Jahren an und versuchen sich gegenseitig in ihrem empörenden Buhlen um Aufmerksamkeit zu übertrumpfen. Ich wünschte, sie würden sich endlich ihre Gefühle füreinander eingestehen und uns aus der Sache herauslassen.“
„Charles ist nicht der erste junge Politiker, den sie dazu benutzt hat, um ihren Ehemann eifersüchtig zu machen“, stimmte Emily zu.
„Und nicht der erste, dessen Karriere dadurch in Gefahr geraten ist“, fügte er hinzu, „doch ich bin der erste, der so öffentlich dafür geschmäht wurde.“
„Es sind die Untaten Ihrer Vergangenheit, die Sie so unwiderstehlich für die Zeitungen machen, Mylord“, neckte Sophie ihn, in der Hoffnung, seine gute Laune wiederherzustellen.
„Ich wünschte, das wäre die einzige Absicht hinter dieser ständigen Aufmerksamkeit. Aber jemand, so scheint es, ist entschlossen, jede Schwierigkeit, in die ich mich gebracht habe, seit ich in die Schule kam, ans Tageslicht zu zerren.“
Wenn überhaupt, sah Charles noch verdrossener aus, als er sich setzte, weil der Tee serviert wurde.
Emily schenkte ihnen ein, bot ihnen Kekse an und tauschte dann einen vielsagenden Blick mit Lady Dayle.
„Ich weiß, es ist ewig her, seit du zuletzt hier warst, Charles“, sagte seine Mutter und stellte ihre Tasse ab, „aber hast du die Veränderungen bemerkt, die wir vorgenommen haben?“
Die Frage schien ihn zu verwirren. Wie jeden Mann, vermutete Sophie. Beim Gedanken an seinen Hohn bei ihrer letzten Begegnung konnte sie einen nervösen Schauder nicht unterdrücken.
Er blickte sich im Salon um. Sophie konnte nicht anders, sie war sehr zufrieden mit ihrer Arbeit. Ein großer Teil des Gebälks war in dunklem Grün gestrichen, hellere Schattierungen desselben Tons zierten die Wände und fanden sich in den Polstermöbeln und Vorhängen wieder. Der rötliche Farbton luxuriöser Kirschholzmöbel stellte einen schönen Kontrast dazu dar. Es sah gut aus, und vor allem erfüllte es eine geheime Sehnsucht im Herzen ihrer Freundin.
„Es wirkt sehr friedlich“, bemerkte Charles erstaunt.
„Genau das hatte ich mir erhofft“, stimmte Emily zu. „Ich wollte das Zimmer betreten und das Gefühl haben, ich wäre in einem versteckten Tal tief im Wald. Ich könnte nicht glücklicher mit der Wirkung sein. Ich bin hochzufrieden mit der Künstlerin, die mir bei der Gestaltung geholfen hat. Niemand anderem wäre das so gut gelungen. Eigentlich ist es ein Geheimnis, aber ich denke, ich werde es
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