Zwischen Pflicht und Sehnsucht
gelächelt. Sie hatte gestrahlt. Sie hatte getanzt und mit einer Menge langweiliger Herren gesprochen, und sie hatte Charles heimlich gemustert, wie alle anderen Anwesenden sie gemustert hatten, und versucht, seine Geheimnisse zu ergründen. Er trug heute Abend Dunkelblau und Cremeweiß und sah überwältigend aus. Jemand hatte sein widerspenstiges Haar gezähmt; wie er selbst war es schimmernd, prachtvoll und eigenwillig.
Wann, fragte sie sich, hat er diese undurchdringliche Maske aufgesetzt? Sie wusste, dass er über die Wiederherstellung seines Rufs erleichtert sein müsste, aber es gab keine Anzeichen dafür. Kein Anzeichen irgendeines Gefühls, außer in einigen wenigen Momenten offensichtlicher Kameradschaft mit seinem Bruder. Er blieb ruhig und kühl und nahm die Aufmerksamkeit jeder Frau im Saal hin, als stünde sie ihm zu. Er sprach viel mit anderen politisch interessierten Herren, tanzte nur selten und nur zweimal mit Miss Ashford.
Sie konnte den Mann, zu dem er geworden war, nicht mögen. Aber sie musste sich auch eingestehen, dass er sie faszinierte. Wie und wann hatte er sich so völlig verändert? Sie war nicht bereit, diese Fragen aufzugeben, ihn aufzugeben.
Sie dankte seinem Bruder schön für den Tanz und zog sich dann in den Damensalon zurück. Eine Zeit lang betrachtete sie sich im Spiegel und bestärkte sich selbst. Ablehnung war ihr nicht fremd. Im zarten Alter von sieben Jahren war sie zur Waise geworden, ihrem Heim in Philadelphia entrissen und kurzerhand nach England verfrachtet worden. Damals hatte sie von einem warmen Empfang und einem liebevollen Onkel geträumt. Stattdessen war sie auf ein entlegenes Anwesen in Blackford Chase abgeschoben worden, wo sie zusammen mit ihrer exzentrischen Tante lebte, die selbst manchmal glaubte, sieben Jahre alt zu sein. Sie war so einsam gewesen, bevor sie Charles traf, und wieder, nachdem er fortgegangen war. Trotzdem war sie ganz gut zurechtgekommen und hatte schließlich einen Weg gefunden, sich nützlich zu machen. Und das konnte sie auch hier in London tun. Hier hatte sie vielleicht sogar die Chance, das Rätsel zu lösen, das Charles Alden darstellte.
Immer noch in Gedanken begab sie sich in Richtung des Ballsaals, als sie eine Hand auf ihrer Schulter fühlte.
„Guten Abend“, begrüßte sie eine bekannte Stimme.
Sophie erstarrte. Ihr Onkel!
Sie zwang sich, tief durchzuatmen, und drehte sich um. Ihr war bewusst gewesen, dass sie ihm irgendwann gegenübertreten musste, doch sie stellte fest, dass sie nicht auf den Schmerz vorbereitet war. „Guten Abend, Onkel.“
Er war gealtert. Die breiten Schultern, an die sie sich erinnerte, waren gebeugt, Grau hatte sich in das dunkle Haar gemischt.
„Es ist lange her“, sagte er.
Sie neigte den Kopf. Es gab keine höfliche Antwort darauf.
„Du kommst gut zurecht. Du hast die Initiative ergriffen und es geschafft, nach London zu gelangen.“ Er lächelte zum ersten Mal und inspizierte sie wie ein Pferd auf dem Viehmarkt. Das Lächeln erreichte seine Augen nicht. „Was für eine Veränderung, verglichen mit dem wehleidigen Gör, das damals auf meiner Türschwelle stand.“
Sie würde ihm kein leichtes Ziel bieten. „In der Tat“, stimmte sie zu. „In so vielen Jahren kann es viele Veränderungen geben. Die wichtigste ist, dass ich Ihre Zustimmung nicht mehr brauche noch wünsche.“
Ihre Unhöflichkeit brachte ihn nicht aus der Fassung. „Du hast das Aussehen deiner Mutter geerbt, ebenso wie ihr Temperament.“
„Genug, um Ihnen zu sagen, dass Sie sich zum Teufel scheren können. Genau das hat sie Ihnen auch gesagt, nicht wahr?“
„Schlau ist sie auch noch. Junge Dame, in dir steckt mehr, als ich dir zugetraut hätte.“
„Lord Cranbourne“, erklang Lady Dayles Stimme hinter Sophie. „Wir hatten so darauf gehofft, Sie heute Abend zu sehen. Wie schön, dass Sophie Sie endlich ausfindig gemacht hat.“
„Das hat sie in der Tat, und ich stelle fest, es war ein großer Fehler, nicht schon früher mit ihr in Kontakt zu treten. Aber ich werde das wiedergutmachen und dich bald besuchen, meine Liebe.“ Er verbeugte sich und ging.
Lady Dayle strich Sophie besorgt über die Wange. „Geht es Ihnen gut?“
„Vollkommen.“
„Es tut mir leid, dass ich nicht früher hier war.“
„Machen Sie sich keine Gedanken.“ Sophie zwang sich, ihrer Freundin zuliebe zu lächeln. „Das Schlimmste ist vorbei. Von nun an wird es nur leichter werden.“
„Ich hoffe, Sie haben recht.“ Die
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