Zwischen Pflicht und Sehnsucht
verlangte er zu wissen.
„Wie der Junge, der sich mit dem schlimmsten Raufbold des Dorfes angelegt hat, derselbe Junge, der den Maibaum hochkletterte, nur um eine Wette zu gewinnen, der Mann, der mit zwei der berühmtesten Kurtisanen der Stadt nackt durch den See im Hyde Park schwamm – wie diese Person sich in den Waschlappen verwandeln konnte, den ich vor mir sehe.“
Einige Sekunden lang blinzelte Charles nur. „Hast du Waschlappen gesagt?“
„Ja, aber ich hätte auch Kleingeist, Memme, Stutzer oder Hasenfuß sagen können.“ Einen Moment lang sah er so aus, als würde er explodieren. Dann lachte er. Und lachte. Fiel zurück in den Zebrafellsessel und lachte noch mehr.
„Verdammt, Sophie“, sagte er, als er sich erholt hatte, „du hast es schon immer verstanden, mich so zu quälen, dass ich meine schlechte Laune verliere. Wie konnte ich das vergessen.“ Er lächelte in Erinnerung versunken, und ihre Blicke trafen sich.
Sophie stockte der Atem. Da war er, dieser Blick, dieses Gefühl der Freundschaft und etwas Undefinierbares, das darüber hinausging. Danach hatte sie bei ihrem ersten Wiedersehen vergeblich gesucht. Es war wunderbar, und doch schmerzvoll, denn sie wusste, es war vergänglich.
„Ich? Dich quälen?“, fragte sie. „Du bist derjenige, der mich angefahren, mich beleidigt und ignoriert hat. Ein paar Schimpfwörter sind das Mindeste, was du verdienst.“
Er grinste. „Wie hast du von der Sache mit dem See erfahren?“
„Genauso wie der Rest von England – aus der Zeitung. Ich wage zu behaupten, dass ich über jeden Schlamassel unterrichtet bin, in den du dich gebracht hast, seit du fünfzehn warst.“
„Guter Gott, das hoffe ich nicht. Einiges davon ist nicht für die Ohren einer Dame bestimmt.“
„Niemand hatte je Anlass, mich für zart besaitet zu halten“, sagte sie stolz. „Du weißt, ich habe nie etwas darauf gegeben, was die Leute von mir sagen. Genauso wenig wie du.“
Die Herausforderung hing zwischen ihnen in der Luft, und Sophie hielt den Atem an. Einen Augenblick dachte sie, sie hätte es geschafft und er würde ihr erzählen, was ihn bedrückte, aber dann verzog er das Gesicht, und das Leuchten in seinen Augen erstarb. Die Maske war zurück.
„Jetzt ist mir die Meinung der Menschen aber wichtig“, sagte er schroff, „und es ist höchste Zeit für dich, ebenfalls darauf zu achten.“
„Ich hätte nie gedacht, dass einmal ein Tag kommen würde, an dem ich das allen Ernstes sagen könnte. Ich mag dich nicht, Charles. Ich kann die Person, die aus dir geworden ist, nicht ausstehen. Du bist verschlossen, kalt und grausam.“
„Gut. Es ist besser so.“ Seine Stimme war so distanziert wie sein Gesichtsausdruck.
„Warum versuchst du, mich zurückzustoßen?“, flüsterte sie.
Er schloss die Augen und focht einen inneren Kampf mit sich aus. Dann stand er auf und ergriff sanft ihre Hände. Sophie nahm den Duft seines exquisiten Eau de Toilettes wahr – und seine maskuline sinnliche Austrahlung. „Die Dinge liegen jetzt anders. Du hast recht, ich habe mich verändert. Wir können einander nicht mehr das sein, was wir früher waren.“
„Warum nicht?“ War es ihr gelungen, die Qual in ihrer Stimme zu unterdrücken?
„Nicht, Sophie“, bat er und ließ die Hände sinken. „Wenn du nur wüsstest, wie schwer es gewesen ist. Und dann kommst du daher und machst alles noch viel schwieriger. Du bist nicht … Ich kann nicht …“ Panik lag in seiner Miene und seiner Stimme. „Hör zu, Sophie, lass uns einfach Freunde sein. Mehr kann ich dir nicht bieten. Bitte.“
Er litt offensichtlich, und aus irgendeinem unerfindlichen Grund war sie schuld daran. Sie wollte seinen Schmerz lindern, wollte wissen, was ihm solche Angst machte. „Wir waren immer Freunde, Charles. Wir werden es immer sein.“
„Danke.“ Seine Erleichterung war fast greifbar.
Verwirrt machte sie sich wieder an ihre Aufgabe. Die winzigen Perlen verschwammen vor ihren Augen, während sie ihre Tränen niederkämpfte.
„Lass mich dir helfen, und dann begleite ich dich zu Mutter.“ Sophie blinzelte zornig. Er wollte ihre Freundschaft nicht wirklich, er wollte sie nur loswerden. Eine Weile suchten sie schweigend, bevor er sagte: „Ich glaube, ein paar stecken noch im Kiefer dieser Kreatur fest.“
Sophie bemühte sich, wieder etwas Kontrolle über sich zu gewinnen. Niemals würde sie ihn sehen lassen, wie tief gedemütigt sie war. Aus einer versteckten, unbekannten Quelle schöpfte sie
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