Zwischen Pflicht und Sehnsucht
Kraft für ein Lächeln. „Die überlasse ich wohl lieber dir, oder?“
Er zog eine Grimasse, kniete sich hin und fischte eine Perle zwischen den Zähen des Krokodils hervor. „Die unangenehmen Aufgaben hast du ja immer mir überlassen.“
„Wie kannst du das sagen?“, protestierte sie. „Ich glaube mich zu erinnern, dass ich es war, die dich von Blutegeln befreit hat, nachdem du unbedingt im Moor Beeren pflücken gehen musstest.“
„Das stimmt allerdings“, gab er zurück, „aber wer musste den Schuppen des Gärtners ausmisten, als du auf die Idee kamst, dir dort eine Ziege zu halten?“
Diesmal war ihr Lächeln echt. Wenigstens war ihnen die Ungezwungenheit geblieben, die sie empfanden, wenn sie zusammen waren. Vielleicht konnte sie sich damit zufriedengeben. „Armer William“, seufzte sie. „Er ist immer noch eine Landplage.“
Charles grinste. „William!“ Er lachte leise. „Ich hatte den Namen des Bocks vergessen. Weil Billy zu wenig würdevoll war!“, johlte er und brach in einen Sturm von Gelächter aus.
Diesmal lachte sie mit, weil das leichter war, als zu weinen.
„Ah, Sophie …“, er wischte sich die Lachtränen fort, „… wir hatten immer Spaß, was?“ Er beugte sich zu ihr, um ihr eine Handvoll Perlen zu reichen, und sah ihr plötzlich ernst in die Augen. „Ich hatte vergessen, wie sehr ich das vermisst habe.“ Nun war sie es, die beinahe panisch reagierte. Er war ihr nahe, so nahe. Er sah entspannt aus, fast glücklich, jetzt, wo er sie sicher in die weit entfernte Vergangenheit verwiesen hatte.
Sie biss sich auf die Lippe und fragte sich, was genau sie eigentlich wollte. Sie hatte keine Ahnung. Als sie nach London gekommen war, hatte sie geglaubt, sie wolle nur ihre Freundschaft wieder auffrischen. Nun bot er ihr genau das an, und sie fühlte sich enttäuscht. Unzufrieden. Sie sehnte sich nach einer Verbindung, die etwas in ihr entzündete und sie mit Leidenschaft erfüllte.
Nun gut. Sie holte tief Luft. Sie würde nehmen, was ihr angeboten wurde. Vorläufig. Sie setzte eine gleichmütige Miene auf und sah auf, um ihm direkt in die Augen zu blicken.
Es gelang ihr nicht.
Er starrte auf ihre Lippen, und unvermittelt hatte die Atmosphäre sich gewandelt. Hitze wallte in ihr auf unter der Intensität seines Blicks, der ihren Hals hinunter- und ihre Schulter entlangwanderte. Die Luft zwischen ihnen vibrierte im Takt ihres heftigen Pulsschlags. Langsam hob er die Hand. Sophie schloss die Augen, als sein Finger hauchzart über ihr Schlüsselbein strich. Sie legte den Kopf zurück, während er eine ihrer vollen Locken streichelte, die ihr in den Nacken fiel.
Das Klirren der zu Boden fallenden Perlen, die ihr aus der Hand glitten, brachte sie wieder zur Besinnung. Und das gerade noch rechtzeitig, denn einmal aus dem sinnlichen Zauber von Charles’ Berührung befreit, begann ihr Kopf zu verarbeiten, was ihre Ohren wahrnahmen.
„Er muss hier drin sein, meine Liebe, ich habe ihn hier zurückgelassen, um die Perlen meines Kleides aufzusammeln.“
Lady Dayle. Direkt vor der Tür. Sophie hoffte nur, dass das für Charles’ entsetzten Gesichtsausdruck verantwortlich war, als sie beide aufsprangen.
„Da seid ihr ja, meine Lieben.“ Lady Dayle hatte eine betont säuerlich dreinblickende Miss Ashford im Schlepptau. „Habt ihr noch nicht alle Perlen gefunden? Ich habe Miss Ashford gerade von unseren Plänen für ein Picknick erzählt, Charles, und war sicher, du hättest nichts dagegen, wenn ich sie dazu einlade.“
„Von was für Plänen sprechen Sie, Mutter?“
Charles ging, ohne sich nach ihr umzusehen, und Sophie glaubte nun sicher zu sein, dass sein entsetzter Gesichtsausdruck nichts mit dem Erscheinen seiner Mutter zu tun hatte.
5. KAPITEL
Perfektes Morgenlicht, ein sanfter Nebel aus Kreidestaub, das leise Kratzen eines Stiftes – ein Rezept für Wohlbehagen. Allein in ihrem Zimmer, umgeben von den Dingen, die sie liebte, hätte sich Sophie eigentlich mehr als wohlfühlen müssen.
Sie tat es aber nicht, denn die Luft war erfüllt von betörendem Fliederduft. Er hatte sich an ihre Lieblingsblumen erinnert. Eine prächtige Vase voller Flieder stand auf ihrem Frisiertisch, und die Karte, die dabei lag, führte sie immer wieder in Versuchung, sie noch einmal zu lesen.
Freunde also.
Das war alles, was da stand, alles, was er anbot.
Sophie warf ihren Stift von sich und gab ihre Arbeit endgültig auf. Es wird Zeit, ehrlich zu dir selbst zu sein, dachte sie,
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