Zwischen Pflicht und Sehnsucht
während sie im Raum auf und ab ging. Ihr Problem war die sichere Erkenntnis, dass das, was er ihr bot, nicht genug war. Sie wollte den alten Charles zurück, ihn und ihre erfüllte, unbeschwerte Freundschaft. Sie wollte den lachenden, sorglosen Charles, der, mit einem hübschen Mädchen allein gelassen, weit über eine einzelne, brennende Liebkosung hinausgegangen wäre.
Sie drückte eine Hand auf die Stelle, die er berührt hatte, und presste die andere auf ihre Stirn. Wohl als einzige Person in ganz England trauerte sie über seine Wandlung vom Frauenhelden zum Biedermann. Die schreckliche Wahrheit war, dass sie auch diesen neuen Charles wollte. Sie war genauso widersprüchlich wie er! Er, der sagte, dass er ihre Freundschaft wünschte, und mit seinem aufgewühlten Blick und seiner feurigen Berührung um etwas ganz anderes bat.
Sophie seufzte. Sicher war nur eines: Sie brauchte Antworten. Sie musste wissen, woher diese Maske kam, was der gehetzte Ausdruck in seinen Augen bedeutete und wo der alte Charles geblieben war. Vielleicht würde ihr das helfen, sich über ihre eigenen Gefühle klar zu werden.
Also gut, sie würden Freunde sein. Sie würde den Stein mit stetem Tropfen höhlen, alle Hindernisse zwischen ihnen ausmerzen, und dann? Dann würde sie ja sehen, was passierte. Ein letztes Mal steckte sie ihre Nase in den Strauß, dann wandte sie sich ab und klingelte nach Nell. Wenn sie nach Antworten suchen wollte, dann fing sie besser gleich damit an.
„Nell“, begann sie, als das Mädchen eintrat, „sagst du mir bitte gleich Bescheid, wenn Emily mit dem Kind aus dem Park zurückkommt?“
„Ja, Miss.“ Nell hielt inne und sah erstaunt auf die Stapel von Papieren und Entwürfen, die das Bett, den Tisch und fast jede andere Oberfläche im Raum bedeckten. „Himmel, Miss, Sie waren aber fleißig, wenn ich das sagen darf. Mrs. Lowder lässt ausrichten, dass sie heute Nachmittag Besuch erwartet. Soll ich eben mal Ihr Haar zurechtmachen?“
Sophie lachte. „Nell, du bist wunderbar umsichtig. Ja, bitte, ich bringe meine Frisur immer furchtbar durcheinander, wenn ich arbeite.“
Sie saß still, während Nell ihr die Nadeln aus dem Haar zog. Nachdem das Mädchen begonnen hatte, mit langen, regelmäßigen Strichen die Locken zu bürsten, fragte sie: „Wie lang bist du schon bei den Lowders, Nell?“
„Oh, so an die sieben Jahre, Miss. Eigentlich bin ich nur ein Stubenmädchen, drum hab ich mich sehr gefreut, als Sie gekommen sind.“ Zum ersten Mal klang Nell schüchtern. Sophie vermutete, sie war es nicht gewöhnt, von sich selbst zu sprechen.
„Du machst deine Sache hervorragend, und ich werde nicht vergessen, das Mrs. Lowder zu erzählen.“
„Oh, ich danke Ihnen, Miss. Ich durfte schon Mr. Lowders Schwester aufwarten, als sie in die Gesellschaft eingeführt wurde, und ich habe ihrer Zofe so oft beim Frisieren zugesehen, dass ich ein bisschen Ahnung davon bekommen habe.“
„Sieben Jahre. Und du warst die ganze Zeit hier im Londoner Wohnsitz?“
„Ja, Miss.“ Das Dienstmädchen klang etwas wehmütig. „Auch wenn ich mir schon ein-, zweimal gedacht hab, auf dem Land würd’s mir gefallen.“
Sophie kicherte. „Ich habe immer dasselbe über die Stadt gedacht. Ich nehme an, es ist nur natürlich, sich nach dem zu sehnen, was man nicht hat.“ Sie schwieg einen Moment und warf Nell dann einen Blick im Spiegel zu. „Wahrscheinlich hast du dann auch eine Menge über Lord Dayles Abenteuer gehört? Er hat die Londoner Zeitungen einige Jahre lang ganz schön in Atem gehalten, nicht wahr?“
Nell neigte den Kopf und bürstete geschäftig weiter. „Man sagt, er ist jetzt geläutert, Miss. Auch wenn’s mich überrascht hat, dass so eine anständige Dame wie Sie mit ihm bekannt ist.“
„Oh ja …“, Sophie bemühte sich, ungezwungen zu klingen, „… ich kenne Lord Dayle, seit er ein Schuljunge war.“ Sie legte den Kopf schief. „Seinen älteren Bruder kannte ich allerdings kaum. Hast du schon hier gearbeitet, als Lord Dayles Bruder starb?“
„Ja. So ein Jammer. Ich habe ihn sogar ein paar Mal gesehen. Er war genauso von der Politik in Anspruch genommen wie Mr. Lowder. So leid tat’s mir für seine arme Mutter! Schlimm genug mit dem Sohn, aber dann stirbt ihr auch noch so kurz drauf der Mann weg.“ Nell schauderte, während sie ihrer Herrin Locken aufdrehte und nach den Haarnadeln griff.
„Als der alte Lord Dayle erkrankte, dachten wir alle, es wäre nicht so schlimm. Niemand war darauf
Weitere Kostenlose Bücher