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Zwischen Pflicht und Sehnsucht

Zwischen Pflicht und Sehnsucht

Titel: Zwischen Pflicht und Sehnsucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deb Marlowe
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griff nach der zweiten Börse.
    Charles steckte sie zurück in seinen Mantel. „Sie werden sie an dem Tag erhalten, an dem der Artikel erscheint.“
    Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf und ging. Draußen sprang er in seinen Zweispänner, nahm seinem Burschen die Zügel ab und spornte seine Braunen an. Es waren noch ein paar Stunden, bis er zu der verfluchten Abendgesellschaft seiner Mutter zurück nach Hause musste. Der Gedanke ließ ihn laut aufstöhnen. Ein Haus voller Menschen war das Letzte, was er jetzt brauchte.
    Trotz all seiner Bemühungen, trotz seiner Prüfung der tugendhaften Debütantinnen, die so keinem verborgen bleiben konnte, trotz seines verstärkten Werbens um Miss Ashford wandte sich die öffentliche Meinung zunehmend wieder gegen ihn. Aus irgendeinem Grund inszenierte jemand eine Kampagne gegen ihn, aber diesmal hatte derjenige die Taktik geändert. In den Zeitungen stand nichts Neues. Stattdessen kamen die Angriffe in Form von vagen Gerüchten und nicht zurückzuverfolgenden Andeutungen. Lord Dayle spiele ihnen etwas vor, flüsterten die Leute. Er habe sich nicht geändert, sondern setze seine dubiosen Aktivitäten nur verdeckt fort, wurde behauptet. Er lulle das Parlament ein, führe die Gesellschaft hinters Licht, munkelte man. Im Geheimen sei er ein Radikaler, ein versteckter Katholik, ein Sympathisant der liberalen Whig-Partei, ein Säufer oder ein Opiumsüchtiger, je nachdem, mit wem man sprach.
    Charles hätte darüber gelacht, wenn er nicht gewusst hätte, dass die Wahrheit über ihn weit schlimmer war als alles, was die Gesellschaft sich ausdenken konnte. Und er hätte den Ernst der Lage rechtzeitig erkannt, hätte das Problem im Keim erstickt, wenn er nicht so besessen von Sophie gewesen wäre.
    Er seufzte. So viele Sorgen wirbelten durch seinen Kopf. Er musste sich konzentrieren, einen Weg finden, die Scherben seines Lebens wieder aufzusammeln. Aber ein Gedanke stieg beharrlich immer wieder an die Oberfläche des Strudels: Sophie.
    Gütiger Gott, er hatte Sophie geküsst. Verschlungen wäre passender, wenn er an diese erschreckend intensive Umarmung zurückdachte. Er hatte kein Recht dazu gehabt. Es war eine Dummheit gewesen. Grausam sogar, wenn er an die groben Worte dachte, die er danach geäußert hatte. Aber wie hätte er sie nicht küssen können? Wie sie da gestanden hatte, so hübsch zerzaust, so gefährlich scharfsichtig, so nah an der unaussprechlichen Wahrheit? Und warum hatte er die zwei Wochen seither damit verbracht, den Kuss immer wieder heraufzubeschwören?
    Weil es schier unmöglich war, das nicht zu tun, deshalb. Schlimm genug, dass er besessen von dem Gedanken an das verflixte Mädchen war, aber plötzlich war sie in ganz London in aller Munde, und sosehr er seine eigenen schlechten Ruf beklagte, umso mehr fürchtete er um Sophies.
    Im Augenblick hofierte die feine Gesellschaft sie geradezu. Plötzlich hatte jeder eine kleine amüsante Geschichte über Miss Westby auf den Lippen. Die Anlässe, die sie besuchte, waren ein unmittelbarer Erfolg. Die lebendigen Farben ihrer Kleider wurden als natürlicher Ausdruck ihrer künstlerischen Veranlagung gepriesen und von jeder Frau, die alt genug war, keine Pastelltöne mehr zu tragen, nachgeahmt. Der Prinzregent selbst hatte verlangt, dass sie ihm vorgestellt würde, hatte ihre Mappe inspiziert und eine Stunde damit verbracht, ihre Entwürfe mit ihr zu diskutieren. Auf einmal betrachtete man ihre Leidenschaft für Inneneinrichtung als einen Vorzug und nicht länger als Kuriosität, doch wie lange würde sich die flatterhafte Hautevolee um ihren Rat reißen?
    Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Er benahm sich wie ein Mönch und wurde als Ungeheuer verflucht. Sie brach die Hälfte aller Regeln der Gesellschaft, und man verehrte sie dafür. Nicht, dass er den Leuten das vorwerfen konnte. Sie war wie ein Komet in ihre abgeschlossene kleine Welt eingeschlagen, aber ihm hatte sie Schlimmeres angetan. Sie hatte ihn mit ihrer Schönheit verhext, ihn mit ihrem Lachen verführt. Sie hatte ihm Vergessen geschenkt.
    Charles schüttelte den Kopf. Er hatte genug Zeit damit verschwendet, wie ein Schuljunge zu schmachten. Er musste sich konzentrieren und dieses Chaos durchschauen, in das sich sein Leben verwandelt hatte – um derer willen, die ihres verloren hatten.
    Er zwang seine Gedanken zurück zu der morgendlichen Begegnung mit dem Herausgeber. Ein kleiner dunkelhaariger Mann. Eine Mappe mit Papieren über seine Aktivitäten.

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