Zwischen Pflicht und Sehnsucht
Seine Stimme klang gepresst.
„Ich verstehe nicht. Willst du damit sagen, du möchtest steif, humorlos und unnahbar sein?“
„Nein, ich meine, dass ich als das wahrgenommen werden will, was ich bin – ein Erwachsener, ein verantwortungsvoller, respektabler Peer des Königreichs.“
„Oho! Praktisch, aber unoriginell, Charles. Ich hätte nie gedacht, dass ich dich einmal den ehrbaren Gutsherren spielen sehen würde. Das alles wegen deines Titels?“
Der Hohn in ihrer Stimme erzürnte ihn. „Natürlich wegen des Titels! Den ich nie wollte. Nun trage ich ihn, und die Pflichten und die Verantwortung lasten jetzt auf mir; manche davon so schwer, dass du es dir nicht vorstellen kannst.“
„Papperlapapp! Tu deine Pflicht, akzeptiere deine Verantwortung, aber lass dich dadurch nicht verbiegen.“ Sie gestikulierte, betonte mit den Händen die Kraft ihrer Worte. Wenn er nicht so wütend gewesen wäre, hätte Charles gelacht. Man wusste, dass Sophie in Fahrt war, wenn sie anfing, mit den Händen zu sprechen. Doch bei ihren nächsten Worten erstarb der Drang zu lachen augenblicklich.
„Du glaubst es vielleicht nicht, Charles, aber ich erinnere mich auch an vieles. Ich erinnere mich an ein Mädchen, das sich selbst unglücklich machte, das alles tat, um den Erwachsenen zu gefallen, die versuchten zu vergessen, dass es existierte. Ich erinnere mich an den Jungen, der es lehrte, sein eigenes Glück zu finden. Ich erinnere mich an deine Worte. Willst du sie hören?“
„Nein“, sagte er barsch.
„‚Wir denken an die anderen, aber wir leben für uns selbst.‘ Das ist ein wunderbares Stück Weisheit für einen kleinen Jungen. Zu schade, dass der Mann es vergessen hat.“ Ihre Stimme triefte vor Verachtung, und Charles erschrak vor sich selbst, weil er fand, dass er nichts anderes als ihre Verachtung verdiente.
Sophie wandte sich von ihm ab und griff nach dem ausgeblichenen Vorhang. „Das ist es, was du jetzt tust, nicht wahr? Du lebst das Leben, das andere von dir erwarten.“
Plötzlich fühlte er den Drang, mit der ganzen Wahrheit herauszuplatzen. Aber er würde ihre Reaktion nicht ertragen. Und Sophie wartete seine nicht ab. „Es ist nur ein Titel, Charles. Er mag vielleicht deine Stellung im Leben festlegen, jedoch nicht mehr. Du hast dich so lange vor dir selbst versteckt, ich glaube, du hast vergessen, wer du bist. Du bist Phillip ähnlicher, als ich es je für möglich gehalten hätte.“ Sie hielt einen Moment inne, als würde sie ihre eigenen Worte verarbeiten, dann spiegelte sich Erkenntnis in ihren Augen. „Es ist wegen Phillip!“
Charles zuckte sichtbar zusammen. Nun kämpfte er um Selbstkontrolle, um die Maske wieder aufzusetzen, bevor es zu spät war.
Es war schon zu spät.
„Mein Gott, Charles! Ist es das, worum es hier geht? Phillip war ein guter und tüchtiger Mann. Aber das lag in seinem Wesen; nicht der Titel hat ihn dazu gemacht. Willst du dich selbst in deinen Bruder verwandeln?“
Wie scharfsinnig sie war! Charles’ Herz klopfte, sein Atem ging schnell. „Wir sind keine Kinder mehr, Sophie. Du kennst mich nicht so gut, wie du denkst.“
„Ich kenne dich gut genug. Wirf dich nicht in einer solchen Ehe weg. Phillip wäre nicht einverstanden. Er würde wollen, dass du glücklich bist.“
Charles erstickte fast an seinen widerstreitenden Gefühlen. Sie war wunderschön in ihrer Leidenschaftlichkeit, beängstigend in ihrer Auffassungsgabe. Er wollte weglaufen, bis nach London, wenn nötig, wo er sich in seiner Arbeit vergraben konnte und den Namen seines Bruders nie mehr hören musste. Er wollte die Maske fallen lassen und in die Wärme ihrer Zuneigung eintauchen, Absolution für seine Sünden erfahren. Er wollte ihr die schreckliche Wahrheit ins Gesicht schreien: Ich kann nicht glücklich sein. Ich verdiene es nicht, je wieder glücklich zu sein.
Er konnte nichts davon tun. Also schob er die Hände in ihr aufgelöstes Haar und küsste sie stattdessen.
Einen Moment lang stand Sophie nur erstarrt, betäubt vor Schreck da. Dann erwachte sie unter seinen heißen, fordernden Lippen zum Leben. Sie konnte das Wunder kaum fassen: Charles küsste sie. Sie war überwältigt von seinem Geschmack, seinem männlichen Duft, dem Mysterium des dunklen Verlangens, das sie durchströmte.
In den langen, einsamen Jahren, als Charles nur in Gedanken ihr Gefährte gewesen war, hatte er für Sicherheit, Akzeptanz und Wärme gestanden. Dann hatte sie ihn wiedergefunden, und er war nicht mehr ihr
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