Zwischen Pflicht und Sehnsucht
sich auf ihre Freundschaft mit Viscount Dayle und seiner Familie berufen. Und das könnte zu mehr führen, dank Lady Dayle und Emily und anderer freundlicher Seelen hier, die weise genug waren, bereitwillig zu vergeben, statt zu verurteilen. Aber allen voran hatten sie ihre Rückkehr in die Gesellschaft Charles zu verdanken.
Sophie suchte nach ihm, betete, dass er ihr ihre Einmischung verzieh und aus dem Erfolg des älteren Paares Hoffnung für ihre eigene verworrene Lage schöpfen konnte. Er mischte sich unter die Gäste, sorgte dafür, dass Lord und Lady Avery sich wohlfühlten, und bemühte sich, mit jedem der Anwesenden ein paar Worte zu wechseln. Außer mit ihr. Kein einziges Mal sah er in ihre Richtung.
Langsam ließ die Aufregung nach, und plötzlich wurde allen bewusst, wie spät es war. Die Averys wurden überredet, über Nacht zu bleiben, und in ihre Zimmer geleitet. Und auch die anderen Gäste machten sich eilig auf den Weg zum Haus. Sophie konnte ihnen nicht böse sein. Es war ein ereignisreicher Abend gewesen.
Ihre eigene Müdigkeit war jedoch verflogen, als sie sah, dass Charles endlich auf sie zukam. Nervös lächelte sie ihn an. „Warst du heute wirklich bei Lord Averys Haus?“, fragte sie.
Er erwiderte das Lächeln nicht. Auf seiner Stirn zeigten sich Sorgenfalten, und er blickte sehr ernst drein, als er ihre Hand nahm. „Sophie, ich muss dich bitten, mir in die Bibliothek zu folgen.“
Sie forschte in seinen Augen nach einem Hinweis, was das bedeuten konnte. Sein Gesicht verriet nichts außer grimmiger Besorgnis.
„Bitte. Meine Mutter und dein Onkel sind auch dort.“
„Natürlich.“
Schweigend versammelte sich die kleine Gruppe in der Bibliothek. Sophie warf Lady Dayle einen fragenden Blick zu, aber die Viscountess hob nur die Schultern. Einzig ihr Onkel schien eine Ahnung zu haben, was im Busch war. Er grinste seltsam, während Charles die Türen hinter ihnen schloss.
Charles sah ihn nicht an. Stattdessen setzte er sich zu Sophie. Sie zuckte zusammen, als er ihre Hand nahm, und sah schuldbewusst zu Lady Dayle hinüber.
„Vor einigen Tagen habe ich den Namen des Mannes herausgefunden, der den Zeitungen Geschichten über meine Vergangenheit verkauft hat“, begann Charles. „Er war jedoch nur ein Lakai, der auf Geheiß eines anderen arbeitete.“
Lady Dayle sah Lord Cranbourne düster an. „Bitte, spann uns nicht auf die Folter, Charles. Wer war es?“
Dieser Blick gab den Ausschlag. Endlich konnte Sophie alle Puzzlestücke zusammensetzen. Sie erinnerte sich an Charles’ drängende Frage gestern Nacht. Wie war sein Name?
„Es war Mr. Fink“, rief sie erstaunt. „Nicht wahr?“ Sie sah Bestätigung und Sorge in Charles’ Miene und blickte ihren Onkel scharf an.
Er saß scheinbar entspannt und sorglos da, aber Sophie bemerkte, dass er sich die linke Handfläche massierte.
„Ich verstehe nicht“, sagte Lady Dayle. „Wer ist Mr. Fink?“
„Cranbournes Angestellter“, antwortete Charles.
Endlich entschloss sich ihr Onkel zu sprechen. „Lächerlich. Warum behaupten Sie so etwas, Dayle?“, fragte er kopfschüttelnd. „Ich weiß, es liegt Ihnen im Magen, dass ich das Komitee der Handelskammer leite, aber das hier geht sogar für einen Scherzbold wie Sie zu weit.“
„Es ist vorbei, Cranbourne. Es ist Zeit, die Wahrheit zu sagen. Sie haben diese erste Meldung im ‚Oracle‘ arrangiert, um sowohl Avery als auch mich zu diskreditieren, damit wir nicht mehr für den Posten in Frage kamen, den Sie haben wollten. Und das hat gut funktioniert, nicht wahr?“
„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden“, protestierte ihr Onkel. Aber Sophie sah die Wahrheit in seinen Augen – und noch etwas anderes. Vielleicht Schmerz – und Angst. Gut, dachte sie und überließ sich ganz ihrem Schock und ihrem Zorn. Er hatte sie jahrelang verletzt – aber dass er auch hinter den Angriffen auf Charles steckte? Sie hoffte, die Wahrheit schmerzte ihn wirklich. Es war Zeit, dass er etwas von dem erntete, was er gesät hatte.
„Es ist zu spät zu leugnen“, sagte Charles. „Sie haben einen Fehler gemacht. Sie hätten es bei dieser einen Geschichte belassen sollen. Ich wäre wahrscheinlich nie auf Sie gekommen, und Sie hätten vermutlich trotzdem Ihren Posten erhalten. Aber Sie haben nicht aufgehört. Sie versuchten, mich zu vernichten. Ich frage mich, warum?“
„Ich weise das von mir. Noch nie habe ich einen solchen Unsinn gehört.“ Er erhob sich. „Lady Ashford hat recht. Sie sind
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