Zwischen Rom und Mekka
Schriftgelehrten und Pharisäern bedeutet hatte: »Nicht der Mensch ist für den Sabbat da, sondern der Sabbat für den Menschen.«
Vom Islam und den Muslimen hatte Johannes mehr als nur eine abstrakte Vorstellung. Vor allem kannte er, anders als seine italienischen Vorgänger, mehr als nur die katholische Welt, das heile Milieu eines Katholizismus als einer Nebengesellschaft, eines »Milieus«, wie es damals hieß, neben der Moderne. Ein halbes Jahrhundert zuvor, 1906, mit knapp 25 Jahren, war er als Bischofssekretär im Heiligen Land gewesen, im Palästina des Osmanischen Reiches, und hatte dabei keine Kreuzzugsideen entwickelt. Obwohl er später als Professor für Kirchengeschichte in seiner norditalienischen Heimatstadt Bergamo damit und mit den Auseinandersetzungen zwischen den Päpsten und dem Islam sehr vertraut war.
Noch mehr. Gewalt wurde Angelo Giuseppe Roncalli verhasst. Als italienischer Sanitätssoldat, dann als Militärseelsorger lernte er während des Ersten Weltkriegs die Schrecken des Krieges in den furchtbaren Schlachten zwischen dem Königreich Italien und dem Kaiserreich Österreich-Ungarn im Nordosten des Landes an den Alpen kennen. Nein, falsch! Für Roncalli kämpften nicht Staaten, sondern Menschen hier und Menschen dort, alle betreut von katholischen Priestern. Heller Wahnsinn des Nationalismus und unendliches Leid! Als vatikanischer Diplomat wurde Roncalli dann in den Osten geschickt, zuerst nach Bulgarien (1925), später (1934-1944) als Apostolischer Delegat für die Türkei und (!) Griechenland mit Sitz in Istanbul und Athen - in der römischen Werteskala ein ziemlich unwichtiger Posten.
Merkwürdiges erlebte der Erzbischof Roncalli in jenen Jahren im Streit der Nationen und Religionen, nicht nur in der hohen Politik, sondern auch in den Auswirkungen für die Menschen. Für diese interessierte er sich stets mehr. In der Türkei beobachtete er die Modernisierungsmaßnahmen des Kemal Atatürk gegen die islamische Religion, in der west-östlichen Metropole Istanbul (Byzanz/Konstantinopel) die Unterdrückung der Minderheit der orthodoxen Christen, in Athen die rom- und papstfeindliche orthodoxe Staatskirche und im Zweiten Weltkrieg ein mörderisches Durcheinander, aus dem der päpstliche Diplomat etwa ungarische Juden rettete. Weil der Erzbischof
Roncalli in all dem politisch nicht belastet war, schickte Pius XII. ihn 1944 als Nuntius in das wieder von den Nazi-Deutschen befreite Frankreich. Er lernte General de Gaulle kennen, den gläubigen Katholiken und Retter der Grande Nation, und die wachsenden Probleme mit den algerischen Muslimen, denen in Algerien im blutigen Unabhängigkeitskampf und jenen in Frankreich mit Ansprüchen an einen europäischen Sozialund Rechtsstaat.
Der Kardinal Roncalli hatte als Patriarch von Venedig seit 1953, als er also schon in seinen Siebzigerjahren war - nicht viel falsch gemacht, nichts Kontroverses ausgelöst, doch auch nichts Weltbewegendes angestoßen. Das sollte sich ändern. Ende Oktober, Anfang November 1958 stellte sich ein kleiner Dicker mit rundem Gesicht und großen Ohren, mehr Großvater als Vater der katholischen Christenheit, der Welt als »Josef euer Bruder« vor. Das war zunächst eine Anspielung auf seinen eigenen Namen. Doch es wurde bald, wie so vieles leicht Angedeutete von ihm, programmatisch ausgelegt als Hinweis auf die bewegende Geschichte aus dem Alten Testament mit den Stammesvätern Israels, auf die Juden, auf die anderen Christen und schließlich auf alle Menschen guten Willens, die unter Johannes XXIII. immer zahlreicher und wohlwollender wurden.
Vorrang des Menschen vor der Religion
Als vermeintlicher »Übergangspapst« hat Johannes XXIII. tatsächlich einen Übergang vollbracht, innerhalb der Kirche und nach außen, auch zum Islam. Er stieß mit der Einberufung eines Konzils, des Zweiten Vatikanischen nach dem Ersten von 1869/70, geradezu eine Kulturrevolution in der katholischen Kirche an, deren Auswirkungen bis nach Mekka reichten.
Als Maxime des neuen Papstes wurde überall verstanden: Vorrang des Menschlichen und des Menschen vor dem Religiösen und der Religion. Sein Programm des »Aggiornamento«, des »An-den-Tag-Heranführens« der Kirche, einer Anpassung an die Erfordernisse der neuen Zeit und des modernen Menschen, galt für die Kirche, gilt jedoch für jede Religion - und
die des Islam offenbar im Besonderen. Die Gegensätze zwischen Alt und Neu, zwischen Kirche und Gesellschaft, Theologie und Zeitgeist brechen
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