Zwischen uns das Meer (German Edition)
war der Zeitpunkt gekommen, das Richtige zu seiner Tochter zu sagen, etwas, was ihr die Angst nahm und ihr Hoffnung gab. Er ging im Geiste ein paar Antworten – ehrliche und gelogene – durch und entschied sich für eine Halbwahrheit. »Ihre rechte Hand und ihr rechtes Fußgelenk sind … verletzt. Jetzt versuchen sie, das wieder hinzukriegen.«
»Dann ist es ja gut, dass sie Linkshänderin ist«, erwiderte Betsy.
»Ja«, sagte er rau.
»Dad? Was verschweigst du mir?«
Er räusperte sich. »Nichts, Betsy. Wir wissen nur noch nicht alles. Es werden immer noch Tests durchgeführt. Ich bin sicher, bald …«
»Du behandelst mich wie ein Baby! Lulu!«, brüllte sie. »Dad ist am Telefon. Er will dir sagen, dass Mom abgeschossen wurde, aber vollkommen in Ordnung ist!«
»Betsy …«
»Daddy?«, fragte Lulu quiekend. »Geht’s Mommy schon besser? Hat sie Eis gekriegt?« Michael fuhr sich mit der Hand durchs Haar und seufzte. Er sprach ein paar Minuten mit seiner jüngeren Tochter, wusste aber anschließend nicht, worüber. Dann kam seine Mutter ans Telefon.
»Wie geht es ihr, Michael?«
»Ich hab sie im Stich gelassen, Ma«, sagte er leise und mehr zu sich selbst. Sofort wusste er, dass das ein Fehler war, dass man so etwas nicht zu seiner Mutter sagte, aber er brauchte jetzt dringend ihren Rat, und dazu musste sie die Wahrheit erfahren.
»Sie wird dich wissen lassen, was sie braucht, Michael. Hör ihr nur einfach zu.«
Sie unterhielten sich noch eine Weile. Nachdem er das Gespräch beendet hatte, schloss er die Augen. Zwar dachte er, er würde nicht schlafen können, doch als er die Augen wieder aufschlug, war es helllichter Tag, und die Sonne schien ins Zimmer.
Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte an, dass es Viertel nach sieben war.
Er stand auf und fühlte sich alt und müde. Erst als er sich geduscht, rasiert und angezogen hatte, ging es ihm etwas besser.
Doch als er kurz darauf an Jolenes Bett stand, war alles wieder da: die Angst, die Schuldgefühle, die Wut. Er hatte Angst, sie würde ihr rechtes Bein verlieren, könnte ihre rechte Hand nicht mehr benutzen und würde dadurch ein anderer Mensch werden. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es war, so schwer verletzt zu sein, so viel zu verlieren. Wie sollte sie wieder die alte Jolene werden?
Er hatte auch Schuldgefühle, weil er Angst um ihre Gliedmaßen hatte, während ihr Leben am seidenen Faden hing. Außerdem war er wütend, dass sie sich in Gefahr gebracht hatte, dass sie verwundet worden war und sie beide jetzt nie wieder sein konnten wie früher.
Er hasste sich für seine Schwäche und fühlte sich, als würde er in einem brodelnden Kessel seiner übelsten Eigenschaften sitzen. Er wollte ein Mann sein, den nur interessierte, dass sie überlebte, ganz gleich, in welcher Verfassung. Und das war er auch, aber es war ein anderer Mann in ihm, der sich nicht vorstellen konnte, sie so anzusehen wie früher, wenn sie ihr Bein verlor und ihre Hand verkrüppelt blieb.
Vorsichtig, um nicht an ihre Schläuche zu kommen, trat er näher an ihr Bett.
Ihr Gesicht wirkte rot; unter den gelben und blauen Blutergüssen war die Haut rot und verschwitzt, und sie atmete flach. Schmutziges, fettiges Haar umrahmte ihr verletztes Gesicht. Ihre Lippen waren aufgesprungen, aufgeschürft und bleich. Unwillkürlich dachte er, dass er einen Fettstift hätte einstecken müssen. Der Gestank war heute noch schlimmer, wie Abfall, der in der Hitze verrottete. Wieder unterdrückte er seinen Würgereiz.
Er ließ den Blick über die Decke schweifen. Ihr rechtes Bein war immer noch geschwollen und sah komisch aus, weil ihr Fuß unnatürlich nach rechts gebogen war. Der Sauger sog pfeifend und schmatzend gelbe zähe Flüssigkeit aus den Wunden.
Er hörte, wie sie aufwachte, wie ihr Atem stockte.
»Mi…chael«, sagte sie und ließ den Kopf schlaff auf die Seite fallen, damit sie ihn ansehen konnte. Ihr Blick war glasig und verschwommen. »Du bist … hier … schön.«
»Ich war schon mal hier, erinnerst du dich?«
Sie runzelte die Stirn und leckte sich über die Lippen. »Ja?«
»Jo?« Er hatte ihr so viel zu sagen, aber wo sollte er anfangen? Es war schon schwer genug, ohne diese Katastrophe den Schaden in seiner Ehe wiedergutzumachen. Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht und befühlte ihre Stirn.
Sie war kochend heiß.
»Warte …«, sagte sie gedehnt. »Du … lieebs mich nich mehr …«
Michael schlug auf den Rufknopf. Als eine Frau hereinkam, erklärte er: »Sie
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