Zwischen uns das Meer (German Edition)
umkrallte mit ihrer linken Hand die Bettdecke. Michael legte seine Hand über ihre und hielt sie fest.
Dann, zum ersten Mal, sah sie ihr verletztes Bein, und der Anblick verursachte ihr Übelkeit. Es war dick geschwollen. Hässlich. Tränen traten ihr in die Augen. Sie bemühte sich, sie zurückzudrängen.
»Ich muss mal auf die Toilette«, sagte Betsy gepresst, rannte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
»Sieht aus wie ein Fußball«, bemerkte Lulu und runzelte neugierig die Stirn.
Michael blickte Jolene an; seine Augen spiegelten ihre eigenen Gefühle: Angst, Verlustgefühl, Trauer und Mitleid.
»Na los, Jolene«, forderte Conny sie auf.
Sie holte zittrig Luft, dann beugte sie sich ganz langsam vor und nahm die neue Gaze, die Conny ihr hingelegt hatte.
»Vorsichtig«, sagte Conny, legte seine Hände über ihre und zeigte ihr, wie sie die Gaze anbringen sollte.
Ihre Haut war gespannt und empfindlich; irgendwie gehörte sie nicht zu ihr. Etwas Bitteres stieg ihr die Luftröhre hinauf; sie schluckte und zwang sich weiterzumachen.
Für Betsy und Lulu , dachte sie wieder und wieder. Tu so, als wäre nichts, als täte es nicht weh, als wäre dir nicht übel. Sei wieder ihre Mom.
Sie legte einen festen Verband um ihr Bein an, verschloss ihn mit kleinen silbernen Haken, lehnte sich dann mit brennenden Augen zurück und warf die Decke wieder über ihr Bein.
»Sehr gut«, lobte Conny. »Fast perfekt.« Er sah zu Lulu hinunter. »Du und deine Mom, ihr beide seid sehr tapfer.«
»Wir sind ja auch Soldaten«, erwiderte Lulu. »Das heißt, ich tu ja eigentlich nur so.«
Conny lächelte. »Das erklärt es. Und jetzt, junge Dame, muss ich ein paar Sachen holen, damit deine Mom trainieren kann. Willst du mich begleiten?«
»Darf ich, Daddy?«, fragte Lulu.
»Na klar.«
Kaum waren sie gegangen, ließ sich Jolene erschöpft in ihre Kissen zurückfallen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Michael und beugte sich zu ihr.
Sie hatte jetzt nicht die Kraft, mit ihm zu streiten. Sie war so schwach und verletzlich, und als sich ihre Blicke für den Bruchteil einer Sekunde trafen, meinte sie, Liebe in seinem zu sehen. Das jagte ihr Angst ein. Sie hatte ihm vor vielen Jahren ihr Herz geschenkt, und dann hatte er es einfach zerquetscht. Nun, da ihr Körper vollkommen zerschunden war, konnte sie nicht zulassen, dass auch noch ihr Herz in Gefahr geriet. »Was willst du eigentlich hier, Michael? Du weißt doch, dass es aus ist.«
»Ist es nicht.«
Sie setzte sich mühsam auf. Es war ihr zutiefst zuwider, dass so etwas Einfaches sie so viel Mühe kostete. Außer Atem warf sie die Decke zurück. »Willst du das etwa?«
»Ja.«
Sie holte scharf Luft. »Lüg mich nicht an, Michael.«
»Ich lüge nicht. Während du weg warst, hab ich eine Menge gelernt, Jolene. Über dich, über mich … über uns. Ich war ein Idiot, als ich dir sagte, ich liebte dich nicht mehr. Wie sollte ich je damit aufhören?«
Wie sehr wünschte sie, das wäre die Wahrheit. Sie sehnte sich so sehr danach, dass es weh tat. Aber sie war jetzt am Ende, und Michael hatte schon immer ein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein besessen. Das war ihnen früher gemeinsam gewesen. Er würde sich nicht erlauben, seine verkrüppelte Frau zu verlassen, ganz gleich, wie sehr er das wollte.
»Da sind wir wieder, Mommy«, rief Lulu, die gerade mit Conny zurückkam. »Und Conny hat gesagt, wir würden Fangen spielen!«
Jolene holte erschöpft Luft. Am liebsten hätte sie gesagt: Ehrlich? Mit nur einer Hand? Mit nur einem Bein? Aber sie schwieg, und das fühlte sich an wie ein kleiner Sieg. Sie brachte sogar ein Lächeln zustande, das schwache Hoffnung ausdrückte. »Okay, Lulu«, sagte sie. »Ich spiele gern Fangen. Dann legen wir mal los.«
Michael stand an Jolenes Bett.
Nach ihrer Physiotherapiestunde war sie fast sofort eingeschlafen. Das wunderte ihn nicht. Sie musste erschöpft sein. Heute hatte er wieder einen Blick von der Frau erhascht, die Helikopter flog. Von der Kämpferin.
Er starrte auf ihr verschorftes Gesicht mit den Blutergüssen. Er hatte in Jolene immer, schon vom ersten Tag an, als sie in sein Büro kam, die Powerfrau gesehen, die Frau aus Stahl.
Jetzt sah er ihre Verletzlichkeit. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben brauchte sie ihn. Er war überrascht, wie viel ihm das bedeutete, wie sehr er für sie da sein wollte.
Sanft berührte er ihr Gesicht. »Hab ich dich verloren, Jo?«, flüsterte er.
Er hörte Lulus helles Stimmchen im Flur,
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