Zwischen uns das Meer (German Edition)
sie sich vor und stand langsam auf einem Bein auf. Dann wartete sie, bis sie ihr Gleichgewicht gefunden hatte, und hielt sich dabei mit der gesunden Hand am Rollstuhl fest. Sie keuchte und schwitzte schon wieder. Und sie hatte Angst zu fallen. Es wäre nicht das erste Mal.
Früher hätte sie mühelos auf einem Bein aufstehen und stehen bleiben können. Jetzt war ihr Gleichgewicht ebenso gestört wie ihr Selbstwertgefühl.
Übertrieben vorsichtig drehte sie sich auf ihrem Fuß um und ließ sich in den Stuhl sinken; ihr verbundenes Restbein stak hervor wie ein Bugspriet.
»Sie haben’s geschafft.« Conny strahlte.
Er gewährte ihr zehn Sekunden, um ihren Sieg auszukosten, dann musste sie wieder auf die Yogamatte und weitertrainieren. Da sie im Rumpf nicht genügend Kraft hatte, um sich mit nur einem Bein auf die Matte zu legen, half Conny ihr. »Sit-ups«, befahl er, kaum dass sie lag. »Zweihundert.«
»Zweihundert? Sind Sie verrückt?«
»Ich hab doch gesagt, Sie würden mich hassen. Also hören Sie auf zu jammern und fangen Sie an.«
Sie legte sich hin, faltete die Hände hinter dem Kopf und zog sich hoch. »Eins … zwei … drei …«
Früher hatte sie nicht bemerkt, dass die Füße einen bei Sit-ups am Boden hielten. Jetzt geriet sie ständig aus dem Gleichgewicht, rutschte und kippelte hin und her, während sie immer wieder ihren Oberkörper hochzog und absenkte.
»Zweihundert, Jolene«, sagte Conny. »Nicht langsamer werden.«
»Sie … können … mich mal«, stieß sie keuchend hervor. Wie gerne hätte sie jetzt aufgegeben, doch jedes Mal, wenn sie kurz davor war, fielen ihr ihre Kinder ein, ihre Familie, und ihre Sehnsucht danach, wieder wie früher zu sein. Also machte sie weiter.
Als sie fertig war, schob Conny sie wieder mit dem Rollstuhl in ihr Zimmer. »Ich schicke Ihnen jemanden, der Ihnen beim Duschen hilft«, sagte er und rollte sie zum Fenster.
»Conny?« Sie blickte zu ihm auf.
»Ja?«
»Das mit Ihrem Sohn tut mir leid.«
Er schenkte ihr ein mattes, trauriges Lächeln. »Und mir tut das mit Ihrem Bein leid.«
Die gesamte nächste Woche verbrachte Jolene die Nächte mit qualvollen Erinnerungen und die Tage mit dem Versuch, so zu tun, als ginge es ihr besser. Jeden Abend rief sie ihre Töchter an und ließ sie von ihrem Tag erzählen; später telefonierte sie mit Carl in Deutschland, um Neues von Tami zu erfahren. Aber meistens trainierte sie. Jeden Morgen, wenn sie aufwachte, war ihr erster Gedanke – in der Sekunde, bevor ihr die Wahrheit dämmerte – Ich frag mich, ob’s zum Joggen zu kalt ist.
Wenn sie dann die Augen aufschlug, hatte sie die Frage verworfen: auf den Haufen verpasster Möglichkeiten, der die Vergangenheit darstellte.
Jetzt war es dunkel im Zimmer; die Tür war geschlossen. Sie wandte leicht den Kopf, um aus dem kleinen Fenster zu sehen. Dort sah sie einen nackten Baum, an dessen dürren Ästen nur noch ein paar hartnäckige bunte Blätter und hier und da ein paar Moosbüschel hingen.
Sie griff nach dem Trapez und zog sich in eine sitzende Position. Als sie es endlich geschafft hatte, war sie schon wieder außer Atem. Schon wieder erschöpft. Sie fasste es einfach nicht, wie viel Muskelmasse sie in so kurzer Zeit verloren hatte.
Heute würde ihr die provisorische Prothese angepasst werden. Ihr neues Bein. Sie wollte sich freuen, aber in Wahrheit hatte sie Angst. Mit dem neuen Bein konnte sie sich frei bewegen, herumlaufen und wieder nach Hause gehen, zurück zu ihrer kaputten Ehe, ihren geschockten Kindern und einem Leben, das keine Basis mehr hatte. Sie war keine Soldatin mehr, keine Pilotin und im Grunde auch keine Ehefrau mehr. Wer war sie dann?
Wie gerne hätte sie über ihre Ängste geredet, doch dem stand sowohl ihr früheres Ich als auch die Armee entgegen. Welche Ängste, Erfahrungen und Schreckensbilder sie auch aus dem Irak mitgebracht haben sollte: Von ihr wurde erwartet, dass sie allein damit fertig wurde. Außerdem hatte sie schon als Kind gelernt, wie nichtig Worte sein konnten. Gegenüber Michael hatte sie immer etwas zurückgehalten, selbst in ihren besten Zeiten, weil sie ihm nicht zeigen wollte, wie angeknackst sie unter ihrer glatten Fassade war. In einem Haus mit zwei Alkoholikern hatte sie gelernt, den Mund zu halten.
Nur bei Tami hatte sie rückhaltlos ehrlich sein können.
Sie legte sich wieder zurück, schloss die Augen und dachte: Tami. Wie geht es dir, Flygirl? Brauchst du mich so sehr wie ich dich? Du hast mich früher schon
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