Zwischen uns das Meer (German Edition)
Lebens zu sein.
Der Berufskundetag war so schlimm gewesen wie erwartet. Betsy hatte sich bei Jolenes Auftritt in der Middle School zu Tode geschämt. Dabei hatte Jolene versucht, sich so unauffällig wie möglich zu benehmen und ihre Stimme ganz neutral zu halten, als sie den Kindern erzählte, wie sie mit achtzehn, direkt nach der High School, mit dem Ausbildungsprogramm der Army begonnen hatte. Den Schülern hatte es sehr gefallen, über ihre Einsätze zu hören, zum Beispiel die Rettung von Bergsteigern am Mount Rainier während eines Schneesturms. Sie stellten Fragen zu Nachtsichtgeräten, Waffen und Kampftraining. Jolene versuchte alles herunterzuspielen – auch, wie cool es war, einen Black Hawk zu fliegen. Doch die ganze Zeit sah sie, wie Betsy immer mehr auf ihrem Stuhl zusammensank und versuchte, sich unsichtbar zu machen. Als es zu Ende war, stürzte Betsy als Erste aus dem Klassenzimmer. Auf der anderen Seite der Turnhalle hatten Sierra und Zoe auf Betsy gezeigt und gelacht.
Seitdem verhielt sich Betsy noch pubertärer und launenhafter. Sie schrie herum; sie weinte, sie verdrehte die Augen. Sie ging nicht mehr, sondern stampfte nur noch, ganz gleich, wo. In Zimmern, im Flur, auf der Treppe. Türen wurden grundsätzlich nur noch zugeknallt. Wenn das Telefon klingelte, stürzte sie als Erste hin und war unfehlbar enttäuscht, wenn der Anruf für jemand anderen war. Und niemand rief sie an, was für eine Zwölfjährige genauso war, als säße sie ausgesetzt auf einer Eisscholle. Jolenes Befürchtungen waren vielleicht übertrieben, aber sie machte sich wirklich Sorgen um ihre Tochter. In letzter Zeit konnte jede Kleinigkeit eine Krise auslösen.
»Heute ist der erste Leichtathletikwettkampf. Du weißt, was das bedeutet: Es besteht die Gefahr der Demütigung. Ich mache mir Sorgen«, sagte sie an diesem Morgen zu Michael. Er saß neben ihr im Bett und las.
Sie wartete auf eine Antwort von ihm, merkte jedoch rasch, dass er nichts dazu sagen wollte oder gar nicht erst zugehört hatte. »Michael?«
»Was? Ach, das schon wieder. Sie kommt schon klar, Jolene. Hör endlich auf, alles kontrollieren zu wollen.« Er legte seine Zeitung beiseite, stand auf, ging ins Bad und schloss die Tür hinter sich.
Jolene seufzte. Wie üblich war sie in Sachen Familie auf sich allein gestellt. Sie stand auf und ging joggen.
Danach duschte sie und zog sich schnell an. Während sie die Mädchen weckte, band sie sich die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Unten in der Küche goss sie sich einen Kaffee ein und bereitete das Frühstück vor. Blaubeerpancakes.
»Morgen«, sagte Michael hinter ihr.
Sie drehte sich um und sah ihn an.
Er lächelte, aber sein Lächeln wirkte müde und verhalten; es erreichte nicht seine dunklen Augen. Eigentlich war es gar kein Lächeln, jedenfalls nicht das, in das sie sich damals sofort verliebt hatte.
Mit einem Mal wurde ihr wieder bewusst, wie gut er aussah. Seine schwarzen Haare, die trotz seiner fünfundvierzig Jahre noch keine einzige graue Strähne zeigten, waren feucht und wellig. Er war der Typ Mann, der Aufmerksamkeit auf sich zog; wenn Michael Zarkades in einen Raum kam, fiel er auf – das wusste er und genoss es.
»Du schaffst es doch zum Wettkampf, oder? Ich weiß, dass du viel zu tun hast und normalerweise nicht dafür nach Hause kommen kannst, aber dieses eine Mal ist es wichtig. Sie ist doch so auf dich bezogen«, sagte sie.
Michael verharrte mit seiner Kaffeetasse wenige Zentimeter vor seinem Mund. »Wie oft willst du mich noch daran erinnern?«
Sie lächelte. »Bin ich schon wieder ein bisschen zwanghaft? Überraschung! Aber es ist wirklich wichtig, dass du kommst. Pünktlich. Betsy ist in letzter Zeit so labil, und ich …«
»Mom!«, kreischte Betsy und kam in die Küche geschlittert. »Wo ist mein orangefarbener Kapuzenpulli? Den brauche ich!«
Lulu kam ihr mit ihrer gelben Decke und zerzausten Haaren nachgerannt. »Kapuze, Kapuze!«
»Sei still !«, schrie Betsy.
Lulu verzog das Gesicht. Sie schlurfte zum Küchentisch und kletterte auf ihren Platz.
»Ich habe deinen Glückspulli gewaschen, Betsy«, erklärte Jolene. »Ich wusste doch, dass du ihn brauchst.«
»Oh«, seufzte Betsy und entspannte sich ein bisschen.
»Entschuldige dich bei deiner Schwester«, befahl Michael von seinem Platz an der Küchentheke.
Betsy murmelte eine Entschuldigung, während Jolene in die Waschküche ging und den Kapuzenpulli holte – ein Geschenk von Michael, das Betsys Talisman
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