Zwischen uns das Meer (German Edition)
seine Gefühle nicht ändern.
Jetzt summte die Gegensprechanlage. Seine Sekretärin teilte ihm mit, dass der Staatsanwalt des King County pünktlich zu ihrem Termin eingetroffen war.
»Schicken Sie ihn rein«, bat Michael und setzte sich aufrechter hin.
Brad Hilderbrand, der Staatsanwalt, kam in sein Büro marschiert. Michael kannte ihn gut; unter der glatten Fassade des Politikers schlug das Herz eines Eiferers. Brad war aufgestellt worden, um hart gegen Kriminalität und noch härter gegen Kriminelle vorzugehen, und er machte seine Sache gut, weil er an die Parteilinie glaubte. »Michael«, begrüßte er ihn lächelnd und mit ausgestreckter Hand.
Sie gaben sich die Hände. Michael sah Brad an, dass Ärger im Anzug war.
»Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass im Fall Keller ein Zeuge aufgetaucht ist«, begann Brad. »Im Interesse vollständiger Aufklärung …«
»Und um vielleicht einen Handel zustande zu bringen …«
»Wollten wir Ihnen diese Information so früh wie möglich zukommen lassen. Keller hat gestanden. Deshalb hab ich mich selber darum gekümmert.«
»Ach, wirklich?«
Brad warf einen Aktenordner auf den Schreibtisch. »Das ist Terry Weiners Aussage. Er ist Kellers Zellengenosse.«
Der Denunziant. Von Staatsanwaltschaft und Polizei immer gern genommen. »Verstehe ich das richtig: Sie wollen behaupten, dass Keith Keller, der in den letzten Wochen seiner Haft weder mit seinem Vater noch mit seinem Anwalt oder dem vom Gericht gestellten Psychiater geredet hat, plötzlich seinem Zellengenossen gegenüber gesprächig geworden ist?«
»Er sagte – und ich zitiere: ›Das Miststück wollte nicht den Mund halten, also hab ich sie abgeknallt.‹«
»Kurz, prägnant und leicht zu merken. Verstehe. Und lassen Sie mich raten, dafür ist der sogenannte Zeuge freigekommen.«
»Er hat nur wegen Drogenbesitzes gesessen.«
»Ein Drogensüchtiger. Perfekt.« Michael nahm den Ordner, schlug ihn auf und überflog die Aussage. »Ich brauche eine Kopie vom Haftbefehl des Zeugen.«
»Die schicke ich Ihnen.«
»Mehr als diese kleine Geschichte haben Sie nicht?«
»Die reicht vollkommen, Michael, und das wissen wir beide.« Brad machte eine bedeutsame Pause und sah ihn an. »Ich habe das mit Ihrer Frau gehört. Zieht in den Krieg, wie? Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Soldatenfamilie sind.«
»Soldatenfamilie? So würde ich uns nicht nennen.«
»Nicht? Komisch. Wie auch immer, jetzt haben Sie sicher alle Hände voll mit den Kindern zu tun.«
Lag da ein abfälliger Unterton in Brads Stimme? »Keine Sorge, Brad. Ich kann die Kinder von der Schule abholen, Essen kochen und Sie trotzdem noch vor Gericht fertigmachen.«
Nach dem Abendessen stand Jolene mit den Händen tief im heißen, schaumigen Spülwasser in der Küche und starrte hinaus in den Garten. Es war eine unglaublich schöne Nacht: Am Himmel funkelten die Sterne, Mondlicht fiel auf den Sund, und der Zaun schien von innen zu glühen. Sie wusste, wenn sie die Augen zumachte, würden tausend Erinnerungen an diesen Garten in ihr aufsteigen, sie würde das Lachen ihrer Töchter hören und den Druck einer kleinen Hand spüren.
Leb wohl. Das hatte sie in den letzten zwei Wochen so oft im Stillen gesagt. Zu Orten, Erinnerungen, Augenblicken, Bildern, Menschen. Sie hatte Stunden damit verbracht, sich alles einzuprägen, um es mitnehmen zu können … das Leben, das sie zurückgelassen hatte … das Leben, das nach dem Krieg auf sie wartete.
Sie zog den Stöpsel aus der Spüle, nahm die Hände aus dem Wasser und trocknete sie ab. Dann verließ sie langsam die leere Küche.
Das Familienzimmer war hell erleuchtet – jede einzelne Lampe brannte, und im Kamin knisterte ein Feuer –, und im Fernseher lief eine Sitcom, die sich niemand ansah. Sie schaltete den Apparat ab, doch die plötzliche Stille war so bedrückend, dass sie ihn sofort wieder anschaltete. Als sie die Treppe hinaufging, fiel ihr auf, wie die Stufen knarrten, doch sie ging weiter. Betsy war in ihrem Zimmer und machte Hausaufgaben, und Lulu schlief schon. Sie blieb kurz vor Betsys Tür stehen und strich mit den Fingerspitzen über das Holz. Eigentlich wollte sie hineingehen, sich mit ihrer älteren Tochter zusammensetzen und noch mal versuchen, mit ihr über die Einberufung zu sprechen. Aber heute Abend hatte sie etwas anderes vor, etwas, was sie so lange wie möglich aufgeschoben hatte.
Sie ging ins Schlafzimmer, machte Licht und schloss die Tür. Als sie so dastand und das Zimmer
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