Zwischen uns das Meer (German Edition)
betrachtete, das sie mit ihrem Mann teilte, stiegen Erinnerungen in ihr auf. Das ist unser Bett, Michael, komm, wir kaufen es … guck mal, wie stabil es ist, wir können dort Kinder zeugen … Und da war die Kommode, die sie beim Trödel einer alten Dame gefunden hatten, und der Perserteppich war ihre erste größere Anschaffung gewesen.
Seufzend ging sie zur Kommode und holte die Videokamera aus der Sockenschublade. Sie befestigte sie an dem Stativ, das sie gekauft hatte, richtete das Objektiv auf das große Ehebett und drückte den Aufnahmeknopf. Dann kletterte sie aufs Bett, arrangierte die Kissen hinter sich und zwang sich zu lächeln, als wollte sie nur eine Gutenachtgeschichte erzählen. »Hey, Lulu.« Ihr versagte die Stimme. Sie holte tief Luft und versuchte es noch einmal. »Ich mache diese Aufnahme für dich.« Sie hielt Lulus Lieblingsbuch hoch: Da liegt ein Krokodil unter meinem Bett. Sie schlug das große Bilderbuch auf, fing an, die Geschichte laut vorzulesen, und sprach die jeweiligen Figuren mit verschiedenen Stimmen. Als sie zu Ende gelesen hatte, schlug sie das Buch zu und blickte mit Tränen in den Augen in die Kamera. »Lucy Louida, ich habe dich lieb. Bis zum Mond und wieder zurück. Schlaf gut, meine Kleine. Bevor du dich’s versiehst, bin ich schon wieder zu Hause.«
Sie kletterte aus dem Bett und schaltete die Kamera aus. Dann entfernte sie die Kassette und legte eine neue ein. Dieses Mal setzte sie sich ans Fußende des Betts und blickte direkt in die Kamera. »Betsy«, sagte sie sanft, »ich weiß nicht mal, wie ich mich von dir verabschieden soll. Mir ist bewusst, wie sehr du mich im Moment brauchst. Du hast so viele Herausforderungen an der Schule zu bewältigen, und ich würde dir gerne alle Ratschläge geben, die du je im Leben brauchen wirst, aber dazu haben wir keine Zeit. Das ist so absurd.« Sie seufzte. »Ich weiß, du bist wütend auf mich, Dreikäsehoch, und das tut mir leid. Ich hoffe nur, dass du mich eines Tages verstehen wirst. Vielleicht wirst du ja sogar so stolz auf mich sein, wie ich es auf dich bin. Ich bin sehr stolz auf dich. Du bist stark, schön, klug und verlässlich. Während ich weg bin, wirst du viele Berge überwinden müssen, und das wird hart. Ich weiß es. Aber du wirst es schaffen.« Für eine Sekunde schloss Jolene die Augen, weil ihr bewusst wurde, dass sie noch so viel sagen wollte. Dann widmete sie die nächsten zehn Minuten all den Ratschlägen, die sie ihrer Tochter geben wollte: über Jungen, und Mädchen, und die Schule, über die Menstruation, über Make-up. Am Ende war sie erschöpft. Es gab einfach noch viel mehr zu sagen … aber ihr blieb keine Zeit. »Ich hab dich lieb, Betsy. Bis zum Mond und wieder zurück. Und ich weiß, dass du mich liebhast. Das weiß ich«, schloss sie und lächelte.
Müde stand sie auf, ging zur Kamera und wechselte wieder die Kassette. Dieses Mal wollte sie etwas zu Michael sagen, doch als sie sich wieder auf die Bettkante setzte und in die runde schwarze Linse blickte, spürte sie nur ihren Verlust. Nach all den gemeinsamen Jahren hatte sie keine Ahnung, was sie ihm sagen sollte. Sie wusste auch nicht, ob er es sich überhaupt anhören würde. Also stand sie wieder auf und schaltete die Kamera aus. Sie legte die beiden Kassetten auf die Kommode und schrieb auf die eine LULU und die andere BETSY .
Und jetzt kam es.
Sie ging zum Schreibtisch in der Ecke des Zimmers und dachte unwillkürlich daran, wie sie ihn gefunden hatte. Michael hatte lachend gesagt: Das ist das hässlichste Ding, das ich je gesehen habe. Wie oft ist der schon lackiert worden? Aber sie hatte seine Hand genommen, Michael zum Tisch gezerrt und gesagt: Du musst tiefer blicken, Baby.
Sie setzte sich an den Schreibtisch und zog die unterste Schublade auf. Darin befand sich eine grüne Metallbox, die sie extra für ihre Einberufung gekauft hatte. Sie holte sie heraus und stellte sie auf die polierte Mahagoni-Platte. Dann nahm sie das Briefpapier, das sie diese Woche gekauft hatte, und machte sich daran, ihre letzten Briefe zu schreiben. Sie hoffte nur, sie würden niemals gelesen werden.
An meine geliebte Elizabeth Andrea. Noch nie ist mir etwas so schwergefallen, wie diesen Brief zu schreiben. Nicht, weil ich nicht weiß, was ich schreiben soll (obwohl das auch stimmt), sondern weil ich den Gedanken nicht ertragen kann, dass Du ihn nach meinem Tod lesen wirst. Dass Du am eigenen Leib erfährst, wie es ist, ohne Mutter aufzuwachsen …
Sie schrieb
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