Zwischen uns das Meer (German Edition)
schlafen konnte, wenn sie sich nicht traute, ihn zu berühren, obwohl sie sich so nach seiner Berührung sehnte, dann fragte sie sich, ob es ihr überhaupt noch etwas ausmachte. Sie wollte ja im Zweifel für den Angeklagten sprechen, wollte seine Kälte als Sorge und Angst deuten, aber am Ende verließ sie ihr angeborener Optimismus. Sie brauchte ihn jetzt, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, und er hatte sie im Stich gelassen. Genau wie ihre Eltern.
An diesem Abend, nach einem langen Tag voller Vorbereitungen im Stützpunkt, fuhr sie den SUV in die Garage und saß dann minutenlang im Dunkeln, um allen Mut zusammenzunehmen. Als sie das Gefühl hatte, sich selbst trauen zu können, stieg sie aus dem Wagen und ging ins Haus.
Warmes Licht und der Geruch nach Lammschmortopf erfüllten das Haus. Ein Hauch Zimt versüßte die Luft. Sie hörte irgendwo die Mädchen reden, aber ihre Stimmen waren gedämpft. In letzter Zeit war keiner von ihnen besonders gesprächig. Es war, als hielten sie vor dem letzten Abschied den Atem an. Betsy nahm es besonders schwer; in den letzten Tagen machte sie immer öfter Szenen, bekam Wutanfälle und knallte Türen. Angeblich hatte sich jemand lustig über sie gemacht, weil ihre Mom bei dem dämlichen Krieg mitmachte . Daraufhin bekam Betsy fast einen Nervenzusammenbruch. Sie war nach Hause gekommen und hatte Jolene angefleht, ihren Abschied einzureichen.
Jolene hängte ihren Mantel auf und ging in die Küche, wo Mila an der Spüle stand und den Abwasch erledigte. Michael war noch auf der Arbeit – in letzter Zeit kam er nur selten vor zehn nach Hause.
Um zehn nach acht ging langsam die Sonne unter; die Aussicht aus dem Küchenfenster sah mit den übereinander gelagerten Flächen aus Bronze, Gold und Lavendel aus wie ein Bild von Monet.
Jolene trat zu Mila und roch einen Hauch Rosenshampoo, als sie ihre Schulter berührte. »Hallo, Mila. Moussaka?«
»Natürlich. Ist doch dein Leibgericht.«
So etwas reichte in letzter Zeit schon aus, um Jolene in tiefste Melancholie zu stürzen. Sie drückte den Arm ihrer Schwiegermutter. »Danke, dass du heute Abend gekommen bist.«
»Dein Essen ist im Kühlschrank. Es braucht ungefähr drei Minuten in der Mikrowelle«, erwiderte Mila, trocknete den letzten Teller ab und stellte ihn auf die Küchentheke. »Wie war es heute am Stützpunkt?«
Jolene trat zurück. »Großartig. Ich bin mehr als bereit aufzubrechen.«
Mila drehte sich um und sah sie an. »Wenn’s sein muss, kannst du dich gegenüber Betsy, Lulu und Michael verstellen, aber nicht mir gegenüber, Jo. Ich brauche deine Stärke nicht. Du brauchst meine.«
»Also darf ich dir gestehen, dass ich ein bisschen Angst habe?«
»Du vergisst, dass ich schon einen Krieg erlebt habe, Jo. In Griechenland. Die Soldaten haben unser Leben gerettet. Ich bin stolz auf dich und werde dafür sorgen, dass deine Töchter es ebenfalls sind.«
Es bedeutete ihr so viel, diese schlichten Worte zu hören. »Und dein Sohn?«, fragte Jolene schließlich.
»Er ist ein Mann, und er hat Angst. Das ist keine gute Kombination. Aber er liebt dich. Das weiß ich. Und du liebst ihn.«
»Ist das denn genug?«
»Liebe? Liebe ist immer genug, kardia mou.«
Liebe. Jolene ließ sich das Wort durch den Kopf gehen und fragte sich, ob Mila recht hatte und Liebe in Zeiten wie diesen wirklich genug war.
»Wir werden warten, bis du gesund und munter wieder nach Hause kommst. Mach dir um uns keine Sorgen.«
Jolene wusste, dass ihr gar nichts anderes übrigblieb. Sie musste die Menschen, die sie liebte, loslassen. Sie konnte zwar ihre Familie vermissen, musste dieses Gefühl – ihre Sehnsucht – aber tief in ihrem Inneren begraben. »Ich schaffe es«, sagte sie leise. Sie hatte schon ihr ganzes Leben lang ihre Gefühle in sich verschlossen. Sie wusste, wie man Angst und Sehnsucht tief in sich begrub. »Ich muss.«
»Mein Sohn wird an der Herausforderung wachsen«, meinte Mila. »In dieser Hinsicht ist er wie sein Vater. Michael würde sich nie vor einer Pflicht drücken. Er wird dich nicht im Stich lassen.«
»Woher weißt du das?«
Mila lächelte. »Ich weiß es eben.«
A CHT
Während der ersten Maiwoche beschäftigte sich Michael mit dem Keller-Fall, plädierte bei der Anklage wegen vorsätzlichen Mordes auf »nicht schuldig« und machte sich an die Ermittlungen zu diesem Fall. Er musste so viele Fakten wie möglich herausfinden – und sein Klient redete immer noch nicht mit ihm. An jenem Tag im Gefängnis
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