Zwischen uns das Meer (German Edition)
hingegen ist man nirgendwo sicher. Die Frau, die dir gerade noch lächelnd zugewinkt hat, könnte den Soldaten in die Luft jagen, der ihr über die Straße helfen will. In Vietnam kam das zwar auch vereinzelt vor, aber im Irak ist das Alltag. Die Straßen wimmeln von USBV s – unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen –, die beliebig Passanten umbringen. Sie sind überall: in Müllhaufen, in Tieren, in Menschen, in Straßengräben. Da drüben ist man nirgendwo sicher. Daher kommen unsere Soldaten mit extremen posttraumatischen Belastungsstörungen zurück.«
»Und könnte dies vernunftgesteuertes Handeln beeinträchtigen?«
»Absolut. Und genau um diese Frage geht’s in dem Keller-Fall. Wir haben es nicht mit irgendeinem üblen Typen zu tun, der seine Frau erschießt und behauptet, er wäre verrückt. Keith Keller hat seinem Land gedient, und obwohl er körperlich unversehrt zurückgekommen ist, muss das noch lange nichts heißen. Allerdings müsste ich mit ihm sprechen, um eine genaue Diagnose stellen zu können.«
»Könnten Sie mir etwas mehr darüber sagen, wie eine posttraumatische Belastungsstörung sich auswirkt?«
»Möglicherweise hat Keith nicht mal mitbekommen, dass er seine Frau getötet hat. Er könnte so verwirrt gewesen sein, dass er weder wusste, wo er war, noch was er tat. Natürlich kann ich mich da erst festlegen, wenn ich mit ihm gesprochen habe. Aber ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass viele unserer Soldaten mit schweren posttraumatischen Belastungsstörungen zurückkommen und dadurch völlig aus der Bahn geworfen werden. So wie es aussieht, war Keith Keller doch vor dem Krieg ein vollkommen normaler und anständiger Mann.«
Michael klopfte mit dem Stift auf den Block und dachte über die Möglichkeiten nach, die sich ihm boten. Cornflower hatte ihm gerade eine Verteidigungsstrategie an die Hand gegeben, doch die war heikel. Geschworene befanden höchst ungern auf verminderte Schuldfähigkeit. Und Unzurechnungsfähigkeit hassten sie geradezu.
Christian legte seine Fingerspitzen aneinander. »Die posttraumatische Belastungsstörung ist eine anerkannte psychische Erkrankung, und zwar seit vielen Jahren. Durch diese Krankheit kann ein Mensch geradezu behindert werden. Was da drüben geschieht … tja … das wissen Sie wohl so gut wie jeder andere.«
Michael runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit?«
»Ich habe gehört, Sie hätten eine Soldatenfamilie. Ihre Frau ist doch Helikopterpilotin im Irak, oder?«
»Sie machen wirklich Ihre Hausaufgaben.«
»Ich weiß gern im Voraus, mit wem ich es zu tun habe. Erzählt Ihnen Ihre Frau viel vom Krieg?«
Es gefiel Michael gar nicht, wie der Doktor ihn ansah. Unbehaglich rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. »Sie ist gerade erst drüben angekommen, aber Frauen nehmen auch nicht am Kampfgeschehen teil. Sie wird hauptsächlich VIP s hin und her fliegen.«
»Ah ja.« Cornflower betrachtete Michael prüfend. Dann lächelte er. »Sie ist Mutter. Mit ausgeprägtem Beschützerinstinkt. Natürlich.« Er schwieg.
»Was meinen Sie damit?«
»Folgendes sollten Sie wissen: Manche Klischees sind wahr, und Krieg ist wirklich die Hölle. Man hat die ganze Zeit Angst, und wenn man keine Angst hat, ist man zum Platzen mit Adrenalin angefüllt. Man muss dabei zusehen, wie Menschen, die man mag – die man wirklich liebt –, direkt neben einem in Stücke gerissen werden. Man sieht ein abgetrenntes Bein in einem Graben und steckt es in einen Sack, weil kein Mann – und kein Körperteil eines Mannes, mein Freund – zurückgelassen werden darf. Es ist die dunkle Nacht der Seele, Michael. Da drüben gibt es keine Frontlinie. Der Krieg ist überall und allgegenwärtig, jeden Tag, an jedem Ort, wohin man auch geht. Manche kommen besser damit zurecht als andere. Warum, wissen wir nicht, aber eins wissen wir: Der menschliche Geist kann so viel Brutalität, Unsicherheit und Angst nicht einfach so verarbeiten. Er kann es einfach nicht. Niemand kommt unversehrt aus dem Krieg zurück.«
»Werden Sie Keith besuchen und ihn sich anschauen? Ich brauche ein Gutachten, wenn ich auf verminderte Schuldfähigkeit plädiere.«
»Natürlich«, erwiderte Christian. »Es wäre mir eine Ehre, diesem jungen Mann zu helfen.«
Eine Ehre. In Verbindung mit seinen Klienten hatte Michael dieses Wort schon lange nicht mehr gehört. Denn zu viele von ihnen waren schuldig. Er war stolz, ein Teil des Rechtssystems zu sein – ein wichtiger Teil –, aber er war nur
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