Zwischen uns das Meer (German Edition)
lieben.
Dann wache ich vom Explodieren der Bomben auf. Ich bin erst einen Tag vor Ort und denke: Hier werde ich sterben.
Warum hab ich nicht schon früher daran gedacht?
Michael verließ gegen Mittag sein Büro und fuhr in den Norden der Stadt. Er bog in die Straße ein und prüfte noch mal die Adresse, die man ihm gegeben hatte. Dann spähte er mit gerunzelter Stirn durch das Seitenfenster des Wagens. Ja, hier war es.
Die Praxis des Psychiaters sah nicht gerade vertrauenerweckend aus. Sie befand sich in einem alten, heruntergekommenen Haus in einem schäbigen Abschnitt der Aurora Avenue. Dröhnender Verkehr strömte an ihm vorbei.
Michael parkte zwischen einem verrosteten Pick-up und einem glänzend grünen Elektrowagen. Er ging über den rissigen, von Unkraut gesäumten Fußweg zu einer leicht abgesackten Veranda, zögerte an der Haustür und klopfte dann.
Fast unmittelbar darauf öffnete ihm ein schlaksiger, älterer Mann mit schulterlangen grauen Haaren und schmalem, faltigem Gesicht. Mit seinem blauen Karoanzug, der mindestens schon zwanzig Jahre aus der Mode war, und einem limonengrünen Hemd sah er aus wie eine Kreuzung zwischen Ichabod Crane und einem abgehalfterten britischen Rocker. Wahrscheinlich war er schon siebzig, aber irgendwie wirkte er seltsam jugendlich.
Michael hoffte nur, dass das nicht der Psychiater war. Geschworene wollten, dass Sachverständige seriös aussahen.
»Sie müssen Michael Zarkades sein«, sagte der Mann und streckte die Hand aus. »Christian Cornflower. Die meisten meiner Patienten nennen mich Doctor C. Kommen Sie doch herein.«
Der Psychiater trat einen Schritt zurück. Im Vorderzimmer saß eine junge Frau mit grellrot gefärbten Haaren und silbernem Nasenring an einem weiß lasierten antiken Schreibtisch und ließ ihre Finger auf einer Tastatur klackern, während sie gleichzeitig telefonierte. Der Doktor ging nickend an ihr vorbei und führte Michael durch ein Büro, das mit bequemen Sesseln und altmodischen Eichentischen möbliert war. Es hatte eine Rosentapete und Stickbilder mit Sprüchen wie Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens.
Schließlich kamen sie in einen Raum, der früher sicher das Elternschlafzimmer gewesen war. Ein großes Fenster umrahmte die Äste eines wunderschönen alten Apfelbaums, der frisches, hell leuchtendes Laub und winzige neue Äpfel trug. Die Wände hier waren holzverkleidet und mit weiteren Stickbildern und gerahmten Diplomen von Harvard, Johns Hopkins und Berkeley geschmückt.
Der Doktor nahm hinter einem antiken Mahagoni-Schreibtisch Platz.
Michael setzte sich in einen bequemen, mit rotem Samt bezogenen Sessel vor dem Tisch. »Ich muss sagen, Doktor Cornflower, Sie wurden mir empfohlen. Ich verteidige einen jungen Mann …«
»Keith Keller.«
Michael runzelte die Stirn. »Ich habe am Telefon nicht den Namen meines Klienten genannt.«
Christian zuckte beredt mit den Schultern. »Ich sehe vielleicht aus, als wäre ich bei Woodstock dabei gewesen – was ich leider verpasst habe –, aber unterschätzen Sie mich nicht. Ich bin ein kluger Mann, Michael. Sie haben die offenbar unmögliche Aufgabe übernommen, Keith Keller zu verteidigen, der seine Frau mit einem Kopfschuss tötete, sich dann stundenlang in seinem Haus verbarrikadierte und drohte, sich umzubringen. Es war im Fernsehen, Herrgott noch mal! Ein SWAT -Team hat ihn vor laufender Kamera aus dem Haus gezerrt, da war er über und über mit Blut bespritzt. Jeder weiß, dass er es getan hat. Aber ich wusste, wenn Sie schlau wären – was ich hoffte –, würden Sie früher oder später bei mir anklingeln.«
»Und wieso?«
»Weil ich Spezialist für posttraumatische Belastungsstörungen bin. Kaum hörte ich, dass Keith Keller ein ehemaliger Marine ist, habe ich mir seinen Fall angesehen. Er war zweimal im Irak.« Er schüttelte den Kopf. »Das Department of Veterans Affairs ist geradezu fahrlässig in der Betreuung der Truppen, die im Irak waren. Wenn der verdammte Krieg endlich vorbei ist, werden wir Hunderttausende traumatisierte Soldaten haben, die nicht mehr mit ihrem Leben zurechtkommen. Sollten wir diesen jungen Männern und Frauen nicht helfen, wird so etwas wie bei Keith bedauerlicherweise kein Einzelfall bleiben.«
Michael holte seinen Laptop heraus. »Fahren Sie fort.«
»Ich war 1967 in Vietnam und sah mit eigenen Augen, wie Menschen vom Krieg buchstäblich verschluckt wurden. Aber in Vietnam konnte man wenigstens noch irgendwo Dampf ablassen. Im Irak
Weitere Kostenlose Bücher