Zwischen uns das Meer (German Edition)
ersten Mal dachte Jolene: Was, wenn ich nicht mehr nach Hause komme? Wie sollen meine Kinder ohne mich überleben?
Spät am Abend, nachdem Jolene zahllose Formulare ausgefüllt, ihre neuen Kameraden kennengelernt und sich endlos Vorträge über alles Mögliche angehört hatte, wie zum Beispiel Skorpione oder CSEL , ein Ortungsgerät zur Rettung von Soldaten aus feindlichen Umgebungen, hatte sie endlich Zeit, sich zu duschen. Da es nur wenige Frauen am Stützpunkt gab, war die Schlange nicht besonders lang, aber im Dunkeln konnte keine Frau allein dorthin gehen. Die Armee hatte zwar einen langen Arm – aber nicht lang genug. Es wurde empfohlen, immer mindestens zu zweit zu gehen.
Nachdem Tami und sie geduscht hatten, begaben sie sich schweigend zu ihrem Wohnwagen zurück. Kaum waren sie drinnen, ließ Tami sich aufs Bett fallen und schlief ein.
Jolene war zu Tode erschöpft, aber viel zu aufgedreht zum Schlafen, daher holte sie ihren Laptop heraus und fing an, nach Hause zu schreiben. Zwar hatte sie noch keinen Internetzugang, wusste auch nicht, wann sie ihn bekommen würde, aber sie konnte den Brief schreiben und am nächsten Tag versuchen, ihn vom Kommunikationszentrum abzuschicken. Sie brauchte jetzt die Verbindung mit ihrer Familie, und anders ging es momentan nicht.
Sie stellte sich ihre Familie vor, jeden Einzelnen, wie sie auf dem Sofa saßen und gemeinsam den Brief lasen. Betsy würde ihn laut vorlesen.
Obwohl wir heute erst angekommen sind, ist der Stützpunkt schon viermal unter Beschuss geraten.
Jolene stellte sich vor, wie sie darauf reagieren würden … und wusste sofort, wie ihre Briefe nach Hause sein mussten.
Meine Lieben, schrieb sie und verspürte so starke Sehnsucht, dass sie kaum weiterschreiben konnte. Sie holte tief Luft.
Es war ein langer Flug hierher, und ich bin ziemlich müde. Betsy, Du würdest nicht glauben, wie flach es hier ist! Alles hat die gleiche Farbe – wie ein vertrocknetes Weizenfeld. Und heiß ist es hier! Ich glaube, ich schwitzte schon, bevor ich aus dem Flugzeug stieg.
Tami und ich wohnen in einem kleinen Wohnwagen. So hab ich mir das College vorgestellt. Also brauchen wir nur noch Fotos und Poster, damit es gemütlich wird. Könntet ihr uns welche schicken? Ich schicke euch auch Fotos, wenn ich kann …
Jolene schrieb alles auf, was ihr in den Sinn kam. Als ihr nichts mehr einfiel, klappte sie den Laptop zu und stellte ihn in den Schrank. Erst da fiel ihr das rosafarbene Tagebuch ins Auge, das Betsy ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Sie holte es heraus, legte es sich auf den Schoß und schlug es auf. Eigentlich hatte sie Betsy das Tagebuch bei ihrer Rückkehr geben wollen, aber schon jetzt, nach vierundzwanzig Stunden hier, wusste sie, dass das nicht geschehen würde. Von nun an brauchte sie einen Ort, wo sie rückhaltlos ehrlich sein konnte. Sie war Chief Zarkades und konnte weder Angst oder Unschlüssigkeit zeigen noch ihrer Familie die Wahrheit schreiben.
Also schlug sie die erste Seite auf und schrieb:
MAI 2005
Dieses Tagebuch sollte eigentlich für Dich sein, Betsy. Ich wollte all meine Gefühle hier festhalten, um es Dir nach meiner Rückkehr zu geben und zu sagen: Sieh, all das dachte ich, während wir getrennt waren. Ich dachte, ich würde Dir alle notwendigen Ratschläge geben, weise und hilfreich sein. Die perfekte Mutter, selbst aus der Entfernung.
Aber die Wahrheit ist, dass es mir das Herz bricht, Mutter zu sein. Ich muss mir überlegen, wie ich stark sein und meine Liebe zu Dir und Lulu beiseiteschieben kann. Wenn das nicht geht, bin ich niemandem mehr nütze.
Hier, in diesem Buch, das Du mir geschenkt hast, werde ich zu mir selbst sprechen müssen. Hoffentlich wird meine Angst dadurch kleiner. Vielleicht werde ich es Dir eines Tages geben, wenn Du alt genug bist, nicht mehr so hart zu urteilen.
Heute wurde der Stützpunkt viermal angegriffen. Als die Sirene zum vierten Mal ertönte, sahen Tami und ich uns nur achselzuckend an und blieben in unserem Wohnwagen. Ich hab weiter meine Kleider eingeräumt, aber ich hörte das Pfeifen der Raketen und das Explodieren der Bomben und dachte: Werde ich mich noch von meinen Mädchen verabschieden können? Und dann war es vorbei.
Vorbei.
Ein Wort, das in letzter Zeit immer öfter in meinem Leben auftaucht.
Zum Beispiel bei meiner Ehe.
Vorbei.
Ich fühle mich so allein hier, ohne Michael. Manchmal tue ich so, als würde er zu Hause immer noch auf mich warten. Als würde er mich immer noch
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