Zwischen uns das Meer (German Edition)
könnte alles ändern – vielleicht hast Du recht. Vielleicht will sie wieder mit mir befreundet sein. Sie hat mir wirklich gefehlt. Jetzt muss ich Schluss machen, weil Dad nach mir brüllt. Wie immer. Er ist total im Stress. Gestern hat er vergessen, den Müll rauszustellen. Wir alle vermissen Dich.
Küsse, Betsy
Liebe Betsy,
toll, dass Du ein Handy hast. Damit bist Du für Notfälle gerüstet. Pass gut darauf auf und geh verantwortungsvoll damit um. Da Du mich kennst, weißt Du, dass ich Dir sagen muss, Bestechung hat mit Freundschaft nichts zu tun, aber darüber können wir später reden. Ich breche heute endlich in den Irak auf. Wenn wir da sind, schreibe ich Dir wieder. Ich hab Dich lieb. Bis zum Mond und wieder zurück.
Mom
PS: Ich hoffe, Du hilfst Dad im Haushalt …
Als Jolene aus dem Frachtflugzeug auf den flachen Sand in Balad trat, kam sie sich vor wie in einem Ofen. Winzige Sandkörnchen verschoben sich unmerklich im heißen Wind und setzten sich überall fest – in den Augen, den Ohren, den Nasenlöchern, dem Haar, dem Hals. Am liebsten hätte Jolene sich die Hand über Mund und Nase gehalten, aber sie stand still und wartete mit tränenden Augen.
Es galt auf vieles zu warten: auf Befehle, auf Materialien, auf Transporte. Ihr Flug schien eine Ewigkeit gedauert zu haben. Von Texas nach Deutschland, dann über Tallil und Al Kut, bis sie schließlich an der Airbase Balad landeten.
Der Wind, der durch den Stützpunkt fegte, war so heiß wie Feuer. Jolene schwitzte. Nach endlosem Warten wurde ihr und Tami ein kleiner Wohnwagen mit Holzverkleidung zugewiesen, die von den Heftzwecken und Nägeln früherer Bewohner lauter kleine Löcher hatte. Das Mobiliar bestand aus zwei durchhängenden Betten und zwei verschrammten Metallschränken.
Jolene ließ ihren schweren Matchsack auf den Boden fallen, woraufhin eine Staubwolke aufstieg. Staub, das wusste sie bereits, gehörte jetzt zu den ständigen Fährnissen ihres Lebens. Mit der gerade ausgeteilten, rauen Bettwäsche und dem Kissen, das sie von zu Hause mitgebracht hatte, setzte sie sich auf das schmale Bett. Die Bettfedern quietschten.
»Wir brauchen ein paar Bilder und Poster«, bemerkte Tami und hustete, während sie sich ebenfalls auf ihrem Bett niederließ. »Von Keanu oder Johnny.«
Jolene seufzte und sah ihre Freundin an. Der Wohnwagen stank nach Staub, Hitze und den Männern, die vorher hier gehaust hatten. Der Wind heulte um sie herum, rappelte an Tür und Fenstern und versuchte hereinzukommen.
Plötzlich ertönte die Sirene.
Jolene war die Erste an der Tür. Sie riss sie für Tami auf, packte ihre Freundin am Handgelenk und zerrte sie hinaus. Die Sirene und die Lautsprecher hingen an einem Pfosten direkt vor ihrem Wohnwagen, und die wiederholte Ansage – GEHEN SIE ZU DEN BUNKERN – war so laut, dass sie alles andere übertönte.
Rund um den Stützpunkt waren Dutzende von Betonbunkern gebaut worden. Jolene und Tami rannten zum nächstgelegenen und gingen hinein.
Sonst war niemand hier. Sie setzten sich in der Dunkelheit auf den Boden, während um sie herum Minen explodierten. Beton rieselte auf sie herab. Irgendwo in der Nähe schlug eine Bombe ein und detonierte. Durch die Türritzen drang beißender Geruch nach Rauch.
Und dann war es vorbei.
Als Jolene aufstand, war sie nicht überrascht, dass ihr die Beine zitterten.
»Ist dir aufgefallen, dass wir die Einzigen hier waren?«, fragte Tami. »Wo sind die anderen?«
Jolene öffnete die Tür. Die grelle Sonne blendete sie. Schwarzer Rauch hing in der Luft und brannte ihr in den Augen. Wohin sie auch blickte, sah sie Soldaten, die so taten, als wäre nichts passiert. Sie fuhren mit Rädern von einem Wohnwagen zum anderen, standen Schlange vor einer Toilette oder spielten Fußball. Sie wandte sich zu Tami. »Man hat uns doch gesagt, Balad würde auch Mortaritaville genannt. Jetzt wissen wir, warum.«
Wieder ertönte die Sirene. Links von ihnen schlugen Mörsergranaten ein, und eine Mauer explodierte. Rauch wehte in ihre Richtung.
»Daran müssen wir uns wohl gewöhnen«, sagte Tami, als es wieder ruhig war.
Jolene blickte ihre beste Freundin an und wusste, dass sie dasselbe dachte. Dieses folgende Jahr mussten sie jede Sekunde mit dem Tod rechnen – ob sie im Wohnwagen saßen, Karten spielten oder duschten.
Wie ging man mit dem Wissen um, dass man jeden Moment getötet, verstümmelt, in Stücke gerissen werden konnte? Schlimmer als ihre Angst war die Sorge um ihre Kinder. Zum
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