Zwischen uns das Meer (German Edition)
selten stolz darauf, einen seiner Klienten zu verteidigen.
Er dachte an Jolene, der Ehre so wichtig war. Ihr hätte es gefallen, dass er diesen Fall übernommen hatte. Er erhob sich, gab Dr. Cornflower die Hand und sagte: »Danke.«
Auf dem gesamten Heimweg dachte er über Keith und seine neue Verteidigungsstrategie nach … und darüber, was mit diesem früher so gutwilligen und anständigen jungen Mann im Irak geschehen war.
Was ist ihm da drüben widerfahren?
Und dann dachte er: Was widerfährt dir, Jolene?
Wie üblich kam er zu spät nach Hause und sah an Betsys Blick, dass sie die Minuten gezählt hatte, um es gegen ihn zu verwenden. Doch der Gedanke an eine weitere pubertäre Tirade, die er verdient hatte, war mehr, als er ertragen konnte.
Seine Mutter kam in die Küche. »Es hat mir nichts ausgemacht, länger zu bleiben. Also mach dir keine Gedanken.«
»Danke, Ma.«
Gerade als er das sagte, klingelte das Telefon.
Irgendwo kreischte – wirklich: kreischte – Betsy: »Ich geh dran!«
Er hörte, wie sie die Treppe heruntergedonnert kam.
Michael lächelte reuevoll und brachte seine Mutter zur Hintertür. »Noch mal danke, Ma.«
Sie küsste ihn auf die Wange. »Übrigens ist eine E-Mail von Jolene gekommen. Lulu wollte sie unbedingt lesen, aber ich hab sie daran erinnert, dass ihr sie alle zusammen lest … daher ist sie ein bisschen aufgedreht.«
Michael gab seiner Mutter einen Kuss und sah ihr nach, als sie zum Wagen ging. Nicht zum ersten Mal dachte er, dass er es ohne sie niemals schaffen würde. Als sie fort war, ging er in die Küche und machte sich einen Drink.
Lulu kam hereinmarschiert. »Wir haben eine E-Mail von Mommy. Können wir die jetzt lesen?«
»Darf ich erst was trinken und mich umziehen?«
»Nein, Daddy, ich warte schon eine EWIGKEIT .«
Michael blickte auf Jolenes Kalender und sah, dass für heute Abend Brathühnchen mit Reis zum Essen vorgesehen war. Er meinte, dass auch eine Dose Pilzsuppe dazugehörte. »Ist gut. Hol deine Schwester. Wir treffen uns am Computer.«
Lulu rannte hinauf. Sekunden später kam sie mit hochroten Wangen und verzerrtem Gesicht wieder zurück. »Sie telefoniert.«
»Sag ihr, sie soll auflegen.«
»Will sie aber nicht.«
»Tja, dann warten wir …«
» NEINEINEIN !«, heulte Lulu auf. Tränen schossen ihr in die Augen.
Michael wusste, dass er eigentlich das Sagen hatte, aber offen gestanden konnte er jetzt keinen Aufstand von Lulu ertragen. Seufzend ging er nach oben und sah, dass Betsy in ihrem Zimmer telefonierte. »Könntest du später zurückrufen, Schatz? Wir wollen Moms Brief lesen, bevor Lulu völlig durchdreht.«
Betsy wandte ihm den Rücken zu und telefonierte einfach weiter.
»Betsy«, warnte er sie.
»Geh raus, Dad, ich TELEFONIERE .«
Da nahm er ihr den Hörer aus der Hand, sagte: »Sie ruft in zehn Minuten zurück« und legte auf.
Es war, als hätte man den roten Knopf zur Auslösung des Dritten Weltkriegs gedrückt. Betsy schrie so laut: »Das war Sierra!«, dass ihm eine Sekunde lang die Ohren klingelten.
»Wir lesen jetzt den Brief. Komm sofort mit runter.« Damit ließ er sie stehen, obwohl sie so wütend war, dass ihr praktisch der Rauch aus den Ohren kam, und ging hinunter in sein Arbeitszimmer.
Dort platzierte er Lulu auf seinen Schreibtischstuhl und setzte sich aufs Sofa, um auf Betsy zu warten. Lange dauerte es nicht. Sie kam die Treppe heruntergestampft, rauschte wie die Rote Königin ins Zimmer und murrte: »Schön, und wo ist jetzt der blöde Brief?«
Sie schob Lulu beiseite und setzte sich, dann kletterte Lulu ihrer Schwester auf den Schoß und sagte: »Lies vor, Betsy.«
Betsy rief die E-Mail auf und öffnete sie.
Der Bildschirm zeigte ein Foto. Darauf standen Jolene und Tami Arm in Arm vor einem Marktstand. Alles wirkte etwas verwaschen und farblos, als würde es regnen oder starker Wind wehen. Aber es war deutlich zu sehen, dass die beiden Frauen strahlten.
»Mommy.« Lulu zeigte auf Jolene.
Betsy scrollte nach unten und fing an, den Brief laut vorzulesen. »Es war ein langer Flug hierher …«
… und ich muss zugeben, dass ich etwas erschöpft bin.
Betsy, Du würdest nicht glauben, wie flach es hier ist! Alles hat die gleiche Farbe – wie ein vertrocknetes Weizenfeld. Und heiß ist es hier! Ich glaube, ich schwitzte schon, bevor ich aus dem Flugzeug stieg.
Tami und ich wohnen in einem kleinen Wohnwagen. So hab ich mir das College vorgestellt. Also brauchen wir nur noch Fotos und Poster, damit es
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