Zwischen uns die Zeit (German Edition)
Diesmal lässt er mich gehen. Ich bin schon fast an der Straße, als ich ihn rufen höre.
» Anna.«
Ich wirble herum. » Was ist?«
» Das genügt nicht.«
» Was meinst du damit? Was genügt nicht?«
» Sechsundvierzig Stunden.«
Ich fühle mich, als würde ich das erste Mal wieder reinen Sauerstoff atmen, nachdem man mich lange Zeit unter Wasser gedrückt hat.
Bennett denkt also darüber nach. Nein, er denkt nicht nur darüber nach, er rechnet nach.
Als er ein tiefes Seufzen ausstößt, weiß ich, dass er bereit ist, etwas zu tun, was er eigentlich nicht tun möchte. Die Minuten vergehen, während ich darauf warte, dass er den nächsten Schritt tut.
» Komm mit rein«, sagt er schließlich. » Ich will dir etwas zeigen.«
23
Bennetts Zimmer sieht heute viel ordentlicher aus als bei bei meinem ersten Besuch. Der Schreibtisch ist aufgeräumt. Es steht nur ein Keramikbecher mit Stiften darauf, daneben liegt ein aufgeschlagenes Schulbuch. Bennett öffnet eine Schublade, nimmt ein rotes zerfleddertes Notizbuch heraus und zieht das Gummiband ab, von dem es zusammengehalten wird. Dann setzt er sich damit aufs Bett, bedeutet mir, mich neben ihn zu setzen, und schlägt es ziemlich weit hinten auf, wo eine Doppelseite dicht mit Daten, Zeiten und mathematischen Symbolen beschrieben ist.
» Als ich gestern Abend nach Hause gekommen bin, habe ich versuchsweise mal alles durchgerechnet«, erklärt er. » Es muss wirklich jede Eventualität miteinbezogen werden. Präzision ist bei so einer Aktion alles, verstehst du?«
Ich nicke dankbar.
» Es geht darum, den perfekten Zeitpunkt für unsere Ankunft zu berechnen.« Er deutet auf die Gleichungen. » Sechsundvierzig Stunden reichen jedenfalls nicht. Damit würde ich uns um zwei Uhr nachmittags des vergangenen Samstags nach Wisconsin zurückteleportieren, was bedeutet, dass wir über drei Stunden Fahrtzeit von der Unfallstelle entfernt wären.« Er tippt mit dem Zeigefinger auf einen Zeitstrahl, der sich über die gesamte Doppelseite erstreckt.
» Es muss ein Zeitpunkt sein, an dem wir beide zusammen waren, aber nicht in einem Fahrzeug saßen, das sich bewegt hat. Das bedeutet, dass wir am frühen Morgen zurückkehren müssen, also zu der Zeit, zu der ich dich zu Hause abgeholt habe.«
» Okay, worauf warten wir?« Als ich aufstehen will, hält Bennett mich am Handgelenk zurück.
» Nicht so eilig, Anna. Das ist längst noch nicht alles.« Er blättert zur nächsten Seite. » Das andere Problem ist, dass unsere älteren Ichs verschwinden werden, sobald wir auftauchen. Das heißt, wir müssen den exakten Moment berechnen, in dem wir in eurer Einfahrt in meinem Wagen saßen, weil es natürlich nicht passieren sollte, während wir gerade mit deinem Vater reden.«
» Klar.« Ich denke an besagten Samstagmorgen zurück. Wie lange saßen wir im Wagen? Es können eigentlich nur Sekunden gewesen sein. Gerade lang genug, um die Sicherheitsgurte anzulegen und ihn zu fragen, wo es hingeht. Soweit ich mich erinnere, sind wir danach gleich losgefahren.
Bennett deutet auf die Seite. » Wenn ich mich nicht verrechnet habe, müssen wir genau um sieben Minuten nach acht ankommen. Es darf nichts schiefgehen, verstehst du?« Er setzt sich aufrecht hin und sieht mich ernst an. » Deswegen würde ich vorher gerne einen Testversuch machen, auch um zu sehen, wie du körperlich damit klarkommst. Wir reisen jetzt gleich zehn Minuten in der Zeit zurück und landen im Flur vor meinem Zimmer. Sobald ich die Tür öffne, werden wir beide verschwinden und durch unsere neueren Ichs ersetzt.«
Bennett geht zum Schreibtisch, bückt sich zu einem der beiden roten Rucksäcke, die dort stehen, und zieht einen kleinen Frischhaltebeutel mit Crackern heraus, mit dem er zum Bett zurückkehrt. » Für alle Fälle…«
» Lieb von dir, danke.« Ich stehe auf und strecke ihm beide Hände hin.
» Noch was, Anna«, sagt er. » Dass wir das ausprobieren, bedeutet nicht, dass wir es auch tatsächlich machen. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich es durchziehen kann.«
» In Ordnung.«
» Bist du bereit?«
Ich nicke.
» Schließ die Augen«, sagt er.
Als ich sie wieder öffne, fällt mein Blick auf das Highschool-Abschlussfoto seiner Mutter, das an der Wand im Flur hängt. Bennett steht neben mir und behält nervös den Treppenabsatz im Blick. Vermutlich hat er Angst, seine Großmutter könnte jeden Moment auftauchen. » Geht es dir gut?«, fragt er.
» Ja.« Mir ist ein bisschen übel, aber
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