Zwischen Wind und Wetter
uns auf die Kieselsteine. Die vielfältigsten Formen,
unterschiedlichsten Größen und feinsten Farbnuancen nahmen unsere Blicke
gefangen. Graue Steine mit rosa Einschluß und schwarzen Streifen, wie abstrakte
Kunst der Natur; sehr unterschiedliche Graus, auch weiße Steine, anthrazitfarbene
mit weißen Kreuzen wie verschnürte Postpakete. Manche glänzten, glitzerten von
der Feuchtigkeit auf ihrer Oberfläche.
‘Jeder Stein
ist ein potentielles Gebirge’, schreibt Roger Caillois in seinem Buch über die
Steine. Steine sind Mikrokosmen an Schönheit, edle Steine, nicht Edelsteine.
Hier lagen sie, scheinbar weder nützlich noch wertvoll oder berühmt.
Ungeschützt waren sie dem Wetter, den Jahreszeiten, den Stürmen ausgesetzt. Wer
zerbrach, wurde zerkleinert, in unendlichen Zeiträumen, blieb da etwas übrig?
Konnten Steine zu nichts werden? Einige hoben wir auf, überlegten, ob wir sie
mitnehmen sollten. Sie wurden warm in unseren Händen, wir wärmten sie, sie
wärmten uns. Steine sind Steine sind Steine sind mehr als Steine.
Die Zeit der Steine (von Erich
Fried)
Die Zeit der Pflanzen
dann kam die Zeit der Tiere
dann kam die Zeit der Menschen
nun kommt die Zeit der Steine
Wer die Steine reden hört
weiß
es werden nur Steine bleiben
Wer die Menschen reden hört
weiß
es werden nur Steine bleiben
Die Steine
schwiegen nicht; sie rollten, von unseren Füßen gestoßen, vom Damm herab,
klackten aneinander. Flache Steine warf ich über die Meeresoberfläche, es gab
klatschende Geräusche, wenn sie aufsprangen und schließlich untertauchten.
Die Steine
sprachen zu uns, neben uns wisperte das Meer, das nach unseren Füßen gierte.
Das Dorf war nicht zu sehen; nur Strand, Steine, Flut und Nebel.
Doch dann,
in Dorfnähe, tauchte eine Gestalt aus dem Nebel auf, eine übermenschengroße
Gestalt, das Denkmal des Roger Casement, oder auf gälisch Ruar’n mac easmainn.
Inschriften von Denkmälern waren glaubwürdig, das hatten wir bei Colleen Bawn
gelernt. Und daher glaubten wir auch dieser Inschrift.
1854 (oder
1864, je nachdem, ob man auf der Vorder- oder Rückseite des Denkmals nachlas)
in Sandycove im County Dublin geboren, verbrachte Roger Casement einen großen
Teil seines Lebens im Ausland, unter anderem in Afrika, gefördert von einem
Lord namens Salisbury. Casement war Kaufmann, tätig im Latex- und
Gummigeschäft, das ihn auch nach Südamerika führte.
Für seinen
unermüdlichen Einsatz um bessere Arbeitsbedingungen in der gummiverarbeitenden
Industrie erhielt er den niederen Adel eines ‘Sir’, die sogenannte ‘Knight
Hood’.
Politisch
engagiert, unterhielt er Kontakte zu den Führern des irischen Freiheitskampfes,
reiste zur Zeit des 1. Weltkrieges in die USA und nach Deutschland, um Waffen
zu besorgen. Es gelang ihm, eine Schiffsladung mit Gewehren auf den Weg zu
bringen, die nach Tralee beordert wurde. Er selbst wurde von Deutschland aus
mit dem U-Boot U19 zum Banna Strand in der Ballyheigue Bay gebracht, um dort
bei Nacht und Nebel an Land gesetzt zu werden. Der Coup mißlang, Casement wurde
am Strand festgenommen, später zum Tode verurteilt und 1916 in London gehängt.
1965 wurde seine Leiche in die Heimat überführt.
Jetzt ragte
das Standbild am Strand von Ballyheigue empor, Sir Roger Casement, mit
gefesselten Händen, ein Sinnbild Irlands.
Es gab nicht
nur den Helden des Osteraufstandes, sondern auch die Ruinen eines Castles, das
mit Hilfe der Europäischen Gemeinschaft und durch die Arbeit von Jugendgruppen
renoviert wurde, jedenfalls das, was noch da war: ein wuchtiger, eckiger Turm
und die Reste einiger Nebengebäude. Und es gab den Kopf von Christy Brown.
Dem
Schriftsteller Christy Brown aus Dublin war im Pub ‘Korby’s’, wo wir zufällig
hineinschauten, ein beleuchteter Glaskasten gewidmet, in dem die Plastik seines
Kopfes ausgestellt war. Nachdem wir unseren ersten Schrecken überwunden hatten
— der Kopf im Glaskasten wirkte ziemlich makaber — und die beiden Stouts ihre
besänftigende Wirkung auf unsere Magenschleimhäute ausgeübt hatten, entdeckten
wir die ausgestellten Bücher, unter anderen ‘Down all the Days’, das bisher in
fünfzehn Ländern veröffentlicht wurde, in Deutschland unter dem Titel ‘Ein Faß
voll Leben’. Und natürlich das berühmte ‘My left Foot’, ‘Mein linker Fuß’, sein
linker Fuß, mit dem er alles geschrieben hat.
Christy
Brown war ein besonders schwerer Fall von zerebraler Kinderlähmung,
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