Zwischen zwei Nächten
Nicht selten nehmen sie dann Ideen oder Entwicklungen von Frauen auf und sind mit diesen sofort auf dem Markt präsent. Von den Frauen fehlt jede Spur. Die öffentlichen Aufträge werden von Männern an männliche Freunde vergeben oder an jene, die gewillt sind, hohe Bestechungsgelder zu zahlen. Zwar gibt es öffentliche Ausschreibungen, aber die Wirtshaus- und Heimsaunamentalität funktioniert tadellos. Gunst und Millionen werden nach festen Regeln verteilt: ‚Wer am meisten schmiert, rutscht am schnellsten rein.‘ Auch Wettbewerbe werden hin und wieder veranstaltet, doch die Sieger stehen von vornherein fest. Korruption und Grundstücksspekulation sind ein beliebtes Gesellschaftsspiel der Oberen Zehntausend – wenn es überhaupt so viele sind.“
Die feinen Leute drängen jetzt zum Aufbruch. Es ist spät geworden, Zeit für einen Barbesuch. Alfred begleitet seine Gäste zur Tür und bittet Ann-Marie, auf ihn zu warten.
„Ich muß noch eine unserer Mitarbeiterinnen nach Hause bringen. Sie hat keinen eigenen Wagen. Aber ich bin in spätestens zwanzig Minuten zurück, dann habe ich Zeit für dich.“
Ann-Marie übersieht Margot einfach und verabschiedet sich von Paul mit einem Kuß auf die Wange. Herrn Gerlich schüttelt sie die Hand. Höchstwahrscheinlich wäre er in Ohnmacht gefallen, wenn sie ihn auch mit einem Kuß beglückt hätte. Aber sie ist heute nicht zu solchen Scherzen aufgelegt.
Außer ihr bleiben nur mehr der Betrunkene und zwei gut gekleidete Herren in Begleitung von zwei nicht minder gut gekleideten Damen am Tisch sitzen. Die vier scheinen sich köstlich zu amüsieren. Ihr Gelächter verletzt Ann-Marie. Sie widmet sich wieder dem einsamen Mann mit dem traurigen Blick.
Er sieht nicht übel aus. Schade, daß sich Anna nicht näher mit ihm eingelassen hat. Aber wer weiß, vielleicht hat sie sogar …
Anscheinend kann er Gedanken lesen, denn er beantwortet ihre unausgesprochene Frage.
„Ich habe nie was mit ihr gehabt. Sie hat mir sehr gut gefallen, als Frau, meine ich, aber irgendwie hab ich Scheu gehabt. Sie, die erfolgreiche Architektin, gutaussehend, verheiratet, und ich, der versoffene Studienabbrecher, von Beruf Versager – ein komisches Pärchen hätten wir abgegeben. Und trotzdem, leider kann man die Zeit nicht zurückdrehen.“
Leider , denkt auch Ann-Marie.
„Nicht einmal du bist in der Lage einzuschätzen, wie mies es mir im letzten Jahr ging. Mich interessierte nichts mehr, und mich konnte auch nichts mehr begeistern. Gefangen in der Dunkelheit und unendlich allein, hatte ich das Gefühl, alles wäre vorbei – das war’s. Nichts als Einsamkeit und gähnende Leere vor mir. Ich will mich nicht selbst bedauern, ich habe nur einfach alles so gründlich satt! Ich muß weg von hier, Annemarie, ich bin fest entschlossen zu gehen. Ich darf mich nicht länger treiben lassen, ich muß endlich handeln. Manchmal fürchte ich, das Handeln verlernt zu haben. Was das Büro betrifft, habe ich allerdings schon ganz konkrete Vorstellungen. Zwei ehemalige Mitarbeiter meines Vaters haben sich vor Jahren selbständig gemacht. Sie sind gut im Geschäft, haben sich aber uns gegenüber immer fair verhalten. Wenn sie überlastet waren, haben wir manchmal Aufträge von ihnen bekommen. Ich glaube, den einen kennst du, er heißt Paul und ist immer eine Art Wahlonkel für mich gewesen. Mit ihm habe ich schon gesprochen, er scheint interessiert. In ein, zwei Monaten könnte ich alles unter Dach und Fach bringen. Paul betrügt mich bestimmt nicht, ich vertraue ihm blind. In dieser Hinsicht wird es also keine Komplikationen geben. Spätestens in zwei Monaten könnte ich bei dir sein, Annemarie. Glaub bitte nicht, daß ich die Schwierigkeiten, die noch auf mich zukommen werden, unterschätze. Ich weiß, was mir blüht, wenn Alfred erfährt, was ich vorhabe. Hier wird der Teufel los sein. In den letzten Wochen war ich oft nahe daran, diesen Plan wieder fallen zu lassen. Doch jetzt habe ich erneut Mut gefaßt. Ich kann mir sogar vorstellen, wieder Geschmack an der Arbeit zu finden. Ganz aufgeben werde ich die Architektur wohl doch nicht, ich habe ja nichts anderes gelernt. Vielleicht sollte ich es mit Fotografie versuchen, mit Architekturfotografie zum Beispiel. Sicher müßte ich meine Kenntnisse auf diesem Gebiet noch erweitern. Es würde mir sogar Spaß machen, noch einmal die Schulbank zu drücken. Bei euch gibt es bestimmt ein reichhaltiges Angebot an Fortbildungskursen. Umso länger ich darüber
Weitere Kostenlose Bücher