Zwischen zwei Nächten
Zigarette für mich? Ich versuche gerade, mir das Rauchen abzugewöhnen, aber jetzt könnte ich eine brauchen.“
Ann-Marie schiebt ihm ihr Päckchen hin und gibt ihm Feuer.
Er macht ein paar tiefe Züge, dann dämpft er die Zigarette wieder aus.
„Danke. Was möchten Sie noch wissen?“
Ann-Marie schaut ihm in die Augen.
„Alles?“
„Wir sind nicht lange beisammengesessen. Sie hat noch viel zu tun gehabt. Aber sie hat fröhlich, fast ausgelassen gewirkt, vermutlich auch, weil ihr Alter wieder einmal verreist war, denn dann war sie meistens gut gelaunt. Ein paar Koffer sind schon gepackt im Vorzimmer gestanden. Ich bin drüber gestolpert, als ich ging, und sie hat gelacht. Ihr Lachen werde ich wohl nie vergessen.“
Ann-Marie bietet ihm noch eine Zigarette an. Er raucht sie nur bis zur Hälfte.
„Ja, sie war gut aufgelegt, vielleicht auch ein bißchen angesäuselt, aber was spielt das für eine Rolle? Zum Abschied hat sie mir einen Kuß gegeben.“
Er widmet sich wieder seinem Glas.
„Der Wein ist nicht schlecht, ich beziehe ihn nach wie vor von meinem Bauern. Du kennst ihn, wir haben ihn einmal zusammen besucht, erinnerst du dich? Ich verdanke ihm einen meiner ersten Aufträge. Er wollte seinen Dachboden ausgebaut haben, Ferien am Bauernhof waren damals der letzte Schrei. Anscheinend ist er mit meiner Arbeit zufrieden gewesen, denn ich bekomme den Wein um denselben Preis wie früher. Seit zehn Jahren ist er um keinen Groschen teurer geworden. Das nenne ich wahre Freundschaft“, sagte Anna und schenkte sich nach.
„Heute habe ich von der Architektur die Nase gestrichen voll. Ideen entwickeln oder Entwürfe zeichnen macht mir nach wie vor Spaß, aber meine Pläne sind hoffnungslos veraltet. Ich kann mich mit dem, was seit den 70er Jahren als das ‚Neue Bauen‘ propagiert wird, nicht anfreunden. Verhaftet in der strengen, funktionalistischen Bauweise, finde ich keinen Anschluß an diesen folkloristischen, biedermeierlichen Stil, der jetzt so en vogue ist und den die Konservativen natürlich freudig beklatschen. Für mich ist dieser ‚Zuckerbäckerstil‘ nur Ausdruck des allumfassenden Provinzialismus und der herrschenden Gartenzwergmentalität. Das ganze Geschwafel über die Postmoderne kann mir gestohlen bleiben. Ich will unter solchen Bedingungen nicht arbeiten, verstehst du? Im übrigen habe ich mit Architektur im engeren Sinn längst nichts mehr zu tun. Die kreative Arbeit erledigen meine Angestellten. Mir bleibt es vorbehalten, mich mit Kalkulationen und Behörden herumzuschlagen und mit primitiven Baubonzen zu verhandeln. Wundert es dich, daß ich diese Art von Arbeit liebend gerne Alfred überlassen habe? Nur, dadurch bin ich endgültig überflüssig geworden. Allerdings wird er in dieser Branche als Kronprinz auch nicht ernstgenommen. Es ist ihm ebensowenig wie mir gelungen, sich gegen die Bau- und Behördenmafia durchzusetzen. Obwohl es zu meinem eigenen Schaden ist, empfinde ich eine gewisse Genugtuung bei diesem Gedanken. Architektur ist männlich, Annemarie, trotz des weiblichen Artikels, durch und durch männlich. Bauskandale sind männlich, Profite, Provisionen, Spekulationen, alles männliche Domänen. Oder hast du schon einmal von einer Frau gehört, die sich ein paar Millionen unter den Nagel gerissen hat und damit den Rest ihres Lebens auf einer Südseeinsel genießt?“
„Leider nein.“
„Sehr witzig, ich meine es ernst. Weiblich zu sein, empfinde ich als etwas ungeheuer Erniedrigendes. Im Betrieb meines Vaters bekam ich das besonders deutlich zu spüren. Als mein Vater noch lebte, wurde mir gönnerhaft zugestanden – schließlich war ich sein einziges Kind –, in diesem Fach zu dilettieren. Eine Spielwiese für unverheiratete Töchter, die sich, sobald sie einen Mann finden, der sie nimmt, wieder auf ihre eigentliche Rolle besinnen. Als ich dann das Büro übernahm, schlugen Vorurteile und männliche Ängste voll zu. Das war mit ein Grund, warum ich mich mehr und mehr zurückzog. Ich hatte es satt, nach allen Regeln der Kaufmannskunst ausgetrickst und hinterher noch mitleidig belächelt zu werden. Ich reagierte mit Verweigerung, anstatt die Herausforderung anzunehmen. Diesen Vorwurf kann man mir zu Recht machen. Im Prinzip funktioniert es in der Architektur genauso wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen. Man will uns in Mittelmäßigkeit ersticken. Obwohl Männer massenhaft schlecht oder mittelmäßig sind, schreiben sie vor allem uns diese Attribute zu.
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