Zwischen zwei Nächten
allein. Außerdem will er bestimmt noch nicht heim. Ich hätte diesen Säufer schon längst hinausgeschmissen, aber er war einer von Annas Schützlingen.“
Er spricht so laut, daß der andere ihn hören muß.
Ann-Marie verabschiedet sich von dem Mann mit den traurigen Augen.
„Verraten Sie mir noch Ihren Namen?“
„Josef Steiner, sie nannte mich Joe.“
„Auf Wiedersehen, Joe.“
Dann folgt sie Alfred zu seinem Wagen.
Sie ist nicht gewillt, seine üble Laune zu ertragen, und ignoriert ihn einfach.
„Ich habe heute schon genug Hände geschüttelt, laß uns schleunigst von hier verschwinden“, bemerkt er gereizt.
Anna hatte schon in ihrem Brief angekündigt, daß sie Wien für immer verlassen und möglichst rasch nach New York kommen wollte. Ann-Marie wußte nicht so recht, wie sie Anna, ohne sie zu verletzen, ihre Einwände gegen diesen Plan erklären sollte.
Sie war überzeugt, daß sich ihre Freundin in New York nicht zurechtfinden würde. Gewöhnt an diese hübsche, friedliche Umgebung, würde es ihr bestimmt nicht leichtfallen, sich in einem desolaten, abbruchreifen Haus wohlzufühlen. Wahrscheinlich besaß sie sehr romantische Vorstellungen, träumte von einem schicken Loft, das sie in irgendeiner Architekturzeitschrift abgebildet gesehen hatte. Statt dessen erwarteten sie bis auf die Grundmauern abgebrannte Häuser, leere, ausgeraubte Geschäfte, überquellende Müllsäcke und stinkende Kanäle, deren Deckel von den jugendlichen Gangs, die das Viertel kontrollierten, anderweitig verwendet wurden. Sie könnten in eine bessere Gegend ziehen, aber dann wären Annas Ersparnisse bald aufgebraucht.
Ann-Marie nahm sich vor, mit ihrer Freundin ernsthaft darüber zu reden und einige ihrer Illusionen zu zerstören, sonst würde ihr zweiter Versuch, miteinander zu leben, wieder im Chaos enden.
Anna schien ihre Zweifel zu spüren, teilte aber ihre Bedenken nicht.
„Ich sehne mich nach einem wilden, unsicheren Leben, ich will endlich dieser trügerischen Dachterrassenidylle entkommen. Eingesperrt in meinen Elfenbeinturm, hoch über den Dächern der Stadt, denke ich an nichts anderes mehr als an Flucht. Ich hasse es, täglich durch die gleichen Straßen zu fahren, dieselben Lokale zu besuchen, in die gleichen unfreundlichen Gesichter zu blicken und auf das Morgen zu warten, das wieder nichts Neues bringen wird.“
„Aber was erwartest du von New York? Andere Straßen, andere Lokale, andere unfreundliche Gesichter?“
„Du mußt groß reden, du hast es doch hier auch nicht ausgehalten. Ich weiß nicht genau, was ich mir erhoffe, nur anders muß es sein, ganz anders. Ich habe befürchtet, daß du mit meinen Plänen nicht einverstanden sein könntest, daß ich dich ebenso nerven würde, wie Alfred mich nervt. Aber dein Kommen hat mir gezeigt, daß ich mit dir rechnen darf, daß ich mich auf dich verlassen kann. In New York werden die letzten Jahre bald nur mehr wie ein schrecklicher Alptraum in meinen Erinnerungen auftauchen, bis ich sie dann endgültig vergessen haben werde. – Ich ertrage diese Enge und Kleinkariertheit nicht mehr, fühle mich eingesperrt, beobachtet und kontrolliert. Du hast das schon vor Jahren erkannt und rechtzeitig das Weite gesucht. Ich hätte damals mit dir gehen sollen. Aber nein, als brave Tochter mußte ich natürlich in Papas Fußstapfen treten. Jahrelang schrieb ich mir selbst die Schuld zu, wenn etwas schiefging, wie meine Ehe zum Beispiel. Zwar suchte ich nach rationalen Erklärungen, landete aber schließlich immer wieder bei meiner eigenen Unfähigkeit. Als ich, vielleicht mit Hilfe der Analyse, endlich aus diesem Dilemma herausfand, wollte ich Alfred noch eine letzte Chance geben. Aber er ist ein Meister im Verdrängen und war nie bereit, über unsere Probleme zu diskutieren, sondern fertigte mich mit leeren Phrasen ab. Ich kann seine Sprüche nicht mehr hören! Den Entschluß, ihn zu verlassen, faßte ich heuer zu Silvester. Sie waren alle da, seine angeblichen Freunde mit ihren hübschen, aufgeputzten Frauen, frisch aus dem Kosmetiksalon. Frauen mit starren Blicken und einem permanenten Lächeln auf den Lippen. Ich wartete darauf, daß dieses Lächeln einfror, aber sie schafften es tatsächlich, die ganze Nacht lang zu lächeln. Selbst als ihre Männer die jungen, niedlichen Sekretärinnen auf den Schoß nahmen, hörten sie nicht auf, blöd zu grinsen. Sie waren eben keine Spielverderberinnen. Alfred hatte alle eingeladen, auch die Angestellten aus meinem Büro. In
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