Zwischen zwei Nächten
zwei Türme einer mittelalterlichen Festung.
Anna kam mit einer Flasche Whisky unter dem Arm aus dem Büro.
„Mit viel Eis, so hast du ihn am liebsten, wenn ich mich richtig erinnere.“
„Ja bitte. – Du sitzt selten hier draußen, nicht wahr?“
Anna nickte, sagte aber nichts. Sie war nicht schwindelfrei und litt unter Höhenangst. Ihrer Freundin zuliebe würde sie es jedoch ein paar Stunden auf der Terrasse aushalten. Sie mied die Nähe des Geländers und rückte ihren Liegestuhl näher an die Hausmauer.
Jeden Sommer nahm sie sich vor, das Geländer erneuern zu lassen, vielleicht sogar eine hohe Ziegelmauer zu errichten. Aber im Herbst vergaß sie dann wieder darauf.
„So und jetzt kriegst du dein Fußbad und einen Whisky zum Aufwärmen.“
„Kannst du dich erinnern, daß wir jemals so einen saukalten August gehabt haben? Vielleicht sollte ich einheizen, aber ich bin, ehrlich gesagt, zu faul, um jetzt noch in den Keller zu gehen“, sagt Alfred, während sie auf den Lift warten.
Das Licht im Stiegenhaus funktioniert nicht. Er nimmt Ann-Marie bei der Hand, und sie stolpert widerwillig hinter ihm her.
Die Wohnung sieht aus wie immer, nichts deutet darauf hin, daß jemand verreisen wollte. Frau Maricek hat gründliche Arbeit geleistet.
Ob Joe von den gepackten Koffern im Vorzimmer nur geträumt hat?
Auf einem Sessel liegen ein paar Kleidungsstücke. Beim Anblick von Annas Wäsche überkommt sie wieder dieses Würgen im Hals.
Mit zitternden Knien läßt sie sich auf die Couch fallen und bittet Alfred um einen Drink. Ihre Stimme droht zu versagen.
Erleichtert, daß ihr seine Anwesenheit für ein paar Minuten erspart bleibt, versucht sie, ihre Fassung wiederzugewinnen. Aber die schrecklichen Bilder wollen nicht verschwinden.
Sie sieht eine Frau auf der Terrasse stehen und hinunterstarren. Die Frau steht auf den Zehenspitzen und beugt sich weit über das Geländer. Dann wird dieses Bild durch ein anderes abgelöst.
Auf dem grauen Pflaster liegt ein zerschmetterter Körper, kein Frauenkörper, sondern eine Puppe, eine fast lebensgroße Puppe, eine Gliederpuppe mit kaputten Gliedern, doch aus einer Wunde am Hinterkopf fließt Blut.
Sie fürchtet durchzudrehen und ruft nach Alfred.
„Wo bleibst du denn?“
Er hat sich umgezogen, trägt jetzt Jeans und einen weiten Pullover.
Anna hat recht gehabt, er ist ganz schön fett geworden.
Alfred stellt die Drinks auf den Couchtisch und setzt sich zu ihr.
„Sag, hat sie keinen Abschiedsbrief hinterlassen?“
„Nein. Ich glaube nicht, daß sie den Selbstmord geplant hat. Sie wäre nicht gesprungen, wenn sie nur eine Sekunde lang überlegt hätte. Ich bin überzeugt, sie wußte nicht, was sie tat. Ein Black-out, sozusagen. Ist dir übrigens bekannt, daß die meisten Selbstmorde sonntags passieren? Ich habe erst vor kurzem einen hochinteressanten Artikel darüber gelesen.“
So leicht läßt sie sich nicht ablenken.
„Weiß man, wann es passiert ist, ich meine die genaue Uhrzeit?“
„Der Arzt hat behauptet, sie müßte schon mindestens acht Stunden tot sein. Warte, gefunden hat man sie um sieben Uhr morgens, also noch vor Mitternacht.“
„Eigenartig. Warum ist sie nicht früher entdeckt worden? Nicht, daß das etwas geändert hätte, aber die Vorstellung, daß sie so viele Stunden da unten bei den Mistkübeln und den hungrigen Ratten gelegen ist, finde ich grauenhaft. Anna hat sich vor Ratten fürchterlich geekelt.“
„Ja, ich weiß. Aber so verwunderlich ist es nicht. Das Beisel hat am Sonntag geschlossen, und sonst kommt kaum jemand in den Hof.“
„Trotzdem, ich verstehe es nicht.“
Sie greift nach ihrem Whiskyglas, zögert, nimmt aber dann doch einen großen Schluck.
Ann-Marie dachte an ihre Whiskyorgien mit Jeff. Er ging sehr verschwenderisch mit seinen Vorräten um. So manche Nacht hatten sie sich in ihrem Park Ecke Columbia Ave/Sechste Straße mit Whisky um die Ohren geschlagen. Von einem Park konnte eigentlich nicht die Rede sein, vielmehr handelte es sich um einen eingezäunten, asphaltierten Platz mit ein paar verdörrten Sträuchern und toten Bäumen. Tagsüber spielten Kinder und Jugendliche Basketball auf dem Betonplatz. Sie erinnerten Ann-Marie immer an kleine Affen, die in einem Käfig herumtollten. Des Nachts war der ‚Park‘ ein Treffpunkt für Obdachlose aus der ganzen Umgebung.
Sie vermißte das Grün in New York. Der Central Park war zu weit weg, außerdem war es selbst am Tag nicht ratsam, dort allein spazieren zu
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