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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baum Vicki
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graublau durchmondet im Westen, über der Stadt und nach dem Priel zu. Auf der Hauptstraße von Obanger begegneten sie den Zügen aufgestörter und ermunterter Leute, die hinauspilgerten, um dem Brand beizuwohnen.
    »Komm«, sagte Karbon und zog Elisabeth in eine Seitenstraße, wo schwärzlich gewordene Reihenhäuser aus Backstein standen, alle gleich und vor jedem zwei Quadratmeter Garten mit einem Fliederstrauch, der braune, traurige Samendolden von verkohltem Aussehen emporstreckte. Es roch nach Brand und Rinnstein – denn in Obanger war die Kanalisation noch nicht ganz durchgeführt, und die Laternen blühten mit spärlichen gelben Lichtkreisen an wenigen Ecken.
    Sie gingen, jetzt enger aneinandergedrängt, durch die ganze Vorstadt, gelangten bei einem kleinen Schwibbogen an die Stadtmauer und in die kleine, alte Gasse, die den Namen ›Am Abzuch‹ führte. Der Abzuch war ein kleiner, heftig strömender Bach, der auf der Prieler Seite eine kleine Sägemühle in Gang hielt und hier mit unverhältnismäßig lautem Rauschen an den geduckten Fachwerkhäusern vorbeischoß. Sie gingen und sprachen, gingen und sprachen, folgten dem Bach bis zur Mühle und kamen so von der Prieler Seite her wieder zum Inneren Lohwinckels zurück. Sie gingen an der Hofseite des Gymnasiums vorbei, sahen das Reck stehen und die kleine Kuhle, die die Jungens sich für ihre Weitsprungübungen gebuddelt hatten, und standen einen Augenblick am Gitter still. »Da drinnen bin ich geboren«, sagte Elisabeth mit einer flüchtigen Handbewegung zu dem kleinen Haus mit den Obstspalieren. Karbon fand es rührend und unbegreiflich, in Lohwinckel geboren zu sein und immer hier gelebt zu haben. »Manchmal, wenn man mit dem Auto durch so ein Nest fährt, denkt man: Wie sind die Leute eigentlich, die in solchen Häusern leben, so abseits und so –?« sagte er.
    »Nun, sie sind auch nicht anders, die Leute«, sagte Elisabeth. Er schaute in ihr aufwärtsgewendetes Gesicht, in dem das sehnsüchtige und hingegebene Frauenlächeln stand, das er auf der ganzen Welt gleich gefunden hatte, und begann auch zu lächeln. »Ja. Natürlich«, flüsterte er.
    Sie gingen über den Markt, an der Kirche vorbei, kehrten um, als es eben halbzehn schlug, und umkreisten die Kirche, an den alten Grabsteinen der Außenmauer vorbei, sie standen atmend vor dem trüben Geruch des Ententümpels still und sahen im Schein einer einsiedlerischen Laterne ihre beiden Gestalten im schwarzen Nachtwasser spiegeln und verzittern, dann kamen sie zur Apotheke und erreichten mit immer zögernderen Schritten das Angermannshaus. Sie brauchten fast eine halbe Stunde für diese letzte Strecke, die Laternen verloschen Punkt zehn und etwas früher, als die Kirchenuhr die Stunde schlug, denn auf dem winzigen Gasometer in Obanger draußen herrschte mitteleuropäische, korrekte Zeit.
    Elisabeth stand mit hängenden Armen unter dem Angermannshaus und fand nicht heim. Ihr Wille reichte nicht für die fünf Schritte, die notwendig waren, um die Schwelle ihres Hauses zu gewinnen. Weil Doktor Persenthein die Holzläden geschlossen hatte, lag das Angermannshaus finster in der Finsternis, und der Spruch, der seine Fachwerkfront umlief, war unleserlich geworden: ›Der ohne Abgunst lebet und nennt Kinder eigen, gleicht einem Bündel Pfeile in der Hand des Starken!‹ Elisabeth hatte zuweilen versucht, eine Beziehung zwischen diesem Spruch und ihrer Existenz zu bauen, so wie sie die täglichen Sprüche, die im Abreißkalender standen, mit geheimer Wichtigkeit und Prophetie erfüllte, aber es war nichts damit. Sie zögerten eine Weile unter dem Turm, oben spielte der heilige Georg mit dem delphinnäsigen Drachen, und es wurde immer unmöglicher für die beiden, sich voneinander zu lösen. Zwar hatte Karbon Elisabeths Arm verlassen und sich mit dem Gesicht ihr zugewendet, die an der feuchten Mauer des Turmdurchganges lehnte. Aber die vibrierende Anziehung ihrer Körper war so stark, daß sie einander gleich darauf wieder näher kamen, Brust an Brust, jedes mit einer Ahnung vom Herzschlag des andern. Auch nahm Karbon dann Elisabeths Hand und legte sie auf sein Herz, in die Wärme zwischen Rock und Hemd, es war eine Berührung von erschreckender Nähe und Süßigkeit für sie beide. »Es schlägt ja«, flüsterte Elisabeth schwebend. Peter lächelte trunken in ihr Haar und atmete nur. Es gingen auch Leute vorbei, und Elisabeth spürte verworren und sehr nebenbei, daß sie da unterm Angermannsturm mit einem Mann

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