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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baum Vicki
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ganze Zeit an Fobianke denken. Fobianke also ist tot, nicht wahr? Was ist von ihm zu sagen? Er hat seine Pflicht getan. Ich habe ihn gut gekannt, weißt du, so ein Schofför erzählt einem manches, wenn man wochenlang mit ihm auf den Landstraßen liegt. Fobianke wollte früher einmal auswandern nach Kanada. Keine Courage gehabt. Die erste Frau ist ihm weggestorben, während er in ein Mädel verknallt war, Kassiererin in einem Automatenbüfett, hübsches, breites Ding. Er hat sie dann doch nicht genommen, wie er Witwer war. Er hat eine mickerige Witwe genommen, älter als er, mit Ersparnissen. Kein Zutrauen zum Leben gehabt, keine Courage. Pflichterfüllung ist eine Sache für zu kurz gekommene Leute, das ist es. ›Ich habe meine Pflicht getan‹, das war Fobiankes Leibspruch. Plötzlich ist er tot. Glaubst du, daß ein Toter sich freut, seine Pflicht getan zu haben? Nicht lachen, Elisabeth, ich bin kein Philosoph, ich drücke es falsch aus. Ich halte nichts von diesen ungelebten Fobianke-Leben, von ihnen allen. Glaub mir, wie ich hier auf diesem Platz gesessen habe, mit dem Rauschen im Schädel, und nicht wußte, ob ich davonkomme: Nur die ungelebten Dinge habe ich bedauert, aber nicht eine Dummheit, nicht eine – na ja, sagen wir also – Sünde, nichts davon. Ich war schon öfters so nah dem Abkratzen, einmal hat mich eine Speischlange gebissen im Urwald, ein Negerdoktor hat mich durchgekriegt – und einmal war ich der einzige von vierundzwanzig Mann in einem Unterstand, der übriggeblieben ist – nein, ich finde, man muß aus dem Leben herauspressen, so viel es hergibt, etwas anderes gilt nicht, wenn's darauf ankommt. Das ist wie beim Schwimmen. Wenn du kein Vertrauen hast, daß das Wasser dich trägt, dann trägt es dich nicht. Wenn du kein Vertrauen hast, daß das Leben dich trägt, wirst du immer absacken – Pflicht! Pflicht! Geschirrwaschen, Bettenmachen, Stiefelputzen, aber wo bist du, du, du, du selber, Elisabeth?«
    Da Elisabeth sich so dringlich angerufen hörte, öffnete sie für eine Sekunde die Augen, die sie während der verworrenen, aber durch ihre Heftigkeit dennoch überzeugenden Worte Karbons geschlossen hatte. Sein rechter Arm lag unter ihrem Nacken, seine linke Hand auf ihrer Brust, an ihrem schwimmenden Blick entlang wuchs der Wald mit zwei schwarzen Mauern an den Straßenseiten hinauf, und oben, nah, waren jetzt Sterne.
    »Vielleicht«, flüsterte sie. »Vielleicht.«
    Er begrub sie schon wieder in einem Kuß. »Ich muß nach Hause«, flüsterte sie schwach, aber als sie aufstand, schlug sie nicht die Richtung nach Lohwinckel ein, sondern begann der Station entgegen zu gehen, als würde sie immer wieder weggezogen vom Angermannsturm und Angermannshaus und dem kämpfenden heiligen Georg, der keine Bedeutung mehr hatte. Sie war jetzt so leicht vor Müdigkeit geworden, daß sie ihre Schenkel und Beine nicht mehr spürte, alle Glieder schliefen oder waren bewußtlos. Die Zeit war ihnen beiden völlig abhanden gekommen, Karbons lädierte Armbanduhr stand, und da nun noch die Nachtnebel aufstiegen und sie einhüllten bis zu den Knien, wurde alles unwirklich. Sie tauchten aus einer unmeßbaren Zeittiefe zuletzt an dem kleinen Holzbau der Station Düßwald – Lohwinckel auf, zwischen den Schienen hockten ein weißes und ein rotes Licht zu rätselhaften Zwecken, denn nachts ging kein Zug auf dieser Seitenstrecke. »Sieht es nicht aus, als ob da Zwerge arbeiteten, mitten bei Nacht?« fragte Elisabeth, es klang ziemlich betrunken.
    In dem kleinen Stationsgarten hoben die letzten Sonnenblumen ihre breiten Gesichter in die Höhe, der Mond war klein geworden, und seine Kurve senkte sich schon. »Komm, komm«, flüsterte Karbon und zog Elisabeth in die winzige, offene Wartehalle, die wie eine Veranda aussah und wie ein Blockhaus duftete, nach feuchtem, frischem Holz und bitterer Rinde. Da die Nacht ins Kühle umgesprungen war, zog Karbon seinen Rock aus und steckte Elisabeth hinein, er war warm und zärtlich wie etwas Lebendiges. »Komm, wir müssen jetzt alles in Ruhe besprechen«, flüsterte Karbon, worauf Elisabeth so heftig zu zittern begann, als wenn er eine Drohung ausgesprochen hätte. Dann saßen sie lange da, mitten bei Nacht in dem lächerlichen Stationshäuschen und besprachen alles. Es war eine irrsinnige Situation, das spürte Karbon deutlich, und es machte ihn selig, daß er noch immer Schwung genug besaß, in derartige Situationen zu kommen.
    Sie saßen, sprachen, schwiegen,

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