Zwischenfall in Lohwinckel
eine Menschenansammlung von animierten und aufgekratzten Lohwincklern zusammengekommen wie beim Jahrmarkt. Sie stehen bis vor die Tür des Angermannshauses hinaus, draußen unterm Torbogen sind noch ein paar, die ihre Hälse ausrenken und sich mit Fragen und Püffen hereinarbeiten möchten. Elisabeth sortiert die besseren Leute aus und setzt sie in ihr Wohnzimmer, ihre linke Braue zuckt nervös, es klopft im Augenlid vor Nervenmüdigkeit schon den ganzen Morgen nach der kurzen Nacht im Lehnstuhl. Sie ist noch nicht ganz fertig mit dem Säubern des Ordinationszimmers, das sich gestern abend in ein Ambulatorium verwandelt hat. Es ist Samstag, man muß einholen gehen, für den Sonntag sorgen, für Lungaus sorgen, für den Gast sorgen und für Kola sorgen, natürlich, für Kola zuerst, denn er hat doppelte Arbeit und zehnfachen Nervenverbrauch, seit diese Geschichte passiert ist. Das Telefon klingelt so häufig, wie Lohwinckler Telefone es sonst niemals tun, und das Rehle, tüchtig wie es ist, hat einen Stuhl davor aufgebaut, steht droben und schreit lakonische Auskünfte in die Muschel.
Herr Markus ist unter den Leuten, die immerzu anrufen, er zwingt Frau Persenthein ans Telefon und zieht, über alle Konsonanten fallend, Erkundigungen ein. Er fiebert, er ist außer sich, es ist seine Angelegenheit, dieses Unglück der berühmten Berliner, er hat eine Depesche an eine Berliner Zeitung geschickt und ist dabei, einen ausführlichen Bericht zu verfassen – mitten in der Hauptgeschäftszeit, Sonnabend vormittags. Er fragt nach jeder Kleinigkeit – nur danach nicht, wie es Elisabeth geht.
Es geht ihr sonderbar. Sie ist nicht zu klarer Besinnung gekommen seit gestern abend, die Ereignisse haben sich zu heftig ihrer bemächtigt, und die Schwierigkeiten lassen sich schlecht erklären. Zum Beispiel ist gar kein Geld im Haus, gar keines, obwohl besondere Aufwendungen notwendig sein werden. Sie hat das deutliche Gefühl, daß sie den rothaarigen Herrn, der aus Berlin kommt, nicht mit der Persentheinschen Spezialdiät füttern kann. Sie drängt sich durch die murmelnde Volksversammlung in der Diele zur Küche – das Frühstücksgeschirr steht noch ungewaschen im Spülstein, Lungaus hat seine Pantoffeln neben den Herd drapiert, aber das Feuer will ausgehen, und ein paar Minuten ist alles in hoffnungslose Verwirrung geraten. Dann holt Elisabeth das Kochbuch, blättert sich einen Speisezettel zurecht, und dann geht sie hin und nimmt Geld aus der Schreibtischlade, in der Doktor Persenthein seine wichtigsten Aufzeichnungen bewahrt.
Geld? Also ist doch Geld im Hause?
Nun ja, da liegen fünfzig Mark, das ist die dritte Rate für den teuren Pantostat, am 15. muß gezahlt werden, und Berufsausgaben werden im Angermannshaus heilig gehalten. Nun nimmt also Elisabeth dieses unantastbare Geld an sich, ein wenig schwindlig aus Angst vor Kola, und geht damit zum Schlachter Seyfried, zum Bäcker Jaennecke, zu Markus, um Mahlzeiten kochen zu können, die eines Peter Karbon würdig sind.
Das wäre das Geld. Aber da fehlt zum Beispiel Bettwäsche; man ist scheußlich knapp damit im Angermannshaus, und ob Frau Bartels aushelfen kann, ist fraglich. Keine einzige ungestopfte Serviette ist da, denn alle sind ererbt und uralt. Vom Dutzend Dessertteller gibt es nur mehr drei, und die haben angestoßene Ränder. Handtücher – ›Jesus Maria, Handtücher!‹ denkt Frau Persenthein, die mit Hut und Einkaufsnetz über die Straße segelt, man hat noch niemals so richtig mit den Handtüchern gereicht, weder in der Ordination noch privat. Der Waschkrug ist zerschlagen und durch einen aus Emaille ersetzt, das sieht übel aus und paßt nicht zum Waschbecken. Der Lehnstuhl müßte neu überzogen werden, das Klavier ist verstimmt, eine Sessellehne kaputt, eine Fensterscheibe gesprungen. Frau Doktor Persenthein bleibt stehen, gerade vor der Kirche, bedrängt von den täglichen kleinen Sorgen, die nun alle zugleich über sie herfallen. Als ob alles Abgenützte, Verbrauchte, Unreparable ihres Lebens mit einem Male auf sie zukäme; es ist eine merkwürdige Sekunde, die sie da vor der Kirche erlebt, angeblasen vom Oktoberwind und mit der rechten Hand krampfhaft das alte Portemonnaie umschließend, in dem die fünfzig Mark für den Pantostat sich befinden.
›Dann soll eben Frau Profet sich ihn nehmen, wenn's gar nicht geht‹ – denkt sie, über Peter Karbon verfügend, und dann wandert sie tapfer weiter. Sie weiß nicht, warum dieser Gedanke einen
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