Zwischenfall in Lohwinckel
Gefühl für Würde. Nach und nach schiebt sich ganz Obanger zur Fabrik hin, auch die Frauen, auch die Kinder, auch die Alten und Kranken, alle, die Doktor Persenthein arbeitsunfähig geschrieben hat und die nun mit ihren abgeblaßten Gesichtern und den Bleistreifen am Lippensaum dastehen, dumpf spüren, daß etwas geschehen ist, dumpf spüren, daß es einem von ihnen geschehen ist.
Das Leichenweibele, Frau Psamatis, hat darauf bestanden, den Toten schwarz einzukleiden, so liegt er nun in dem Anzug da, den Schofför Müller ihm geborgt hat; was falsch ausgedrückt ist, denn Fobianke wird den Anzug nicht mehr zurückgeben, vielmehr hat Herr Profet erklärt, zunächst einmal für alle Kosten und Ansprüche aufzukommen, so lange, bis Herr Karbon vom Unglück seines Schofförs in Kenntnis gesetzt werden könne. Müllers Anzug paßt Fobianke genau, er sieht überhaupt fast aus wie Müller selber, der Beruf hat ihre Gesichter in den wichtigsten Linien gleichgemacht, ihre Hände haben an den gleichen Stellen Schwielen, und die Hautränder an den Nägeln des Gestorbenen sind schwarz geblieben wie bei dem lebendigen Schofför. Was sie unterscheidet, ist fast nur, daß Fobianke einen zufriedenen Eindruck macht und Müller einen unzufriedenen.
So geht der Sonnabend hin, Obanger hat einen Mittelpunkt bekommen, die Wallfahrt zum Schuppen drei nimmt kein Ende, und die paar Neugierigen, die in Lohwinckel drinnen vor dem Angermannshaus lungern oder auf Frau Profets Gartenmauer sitzen, zählen nicht im Vergleich zu den Hunderten, die stumm den Sarg umkreisen und dann murmelnd im Fabrikshof sich herein- und hinausschieben. Die Erinnerung an frühere Unglücksfälle liegt in der Luft. Die Bürger von Lohwinckel sind zwar gewohnt, in ihren Betten und an honetten Krankheiten zu sterben, und deshalb war auch zunächst kein passender Platz für diesen armen, verbluteten Fobianke zu finden. Aber im Umkreis der Fabrik war schon von Jahr zu Jahr so Plötzliches geschehen, Betriebsunfälle, Verletzungen, Unglück. Um die Witwe des Arbeiters Köbele zum Beispiel bildete sich eine eigene Gruppe, denn sie konnte mit gedämpften Worten erzählen, wie ihr zumute war, als man damals ihren Mann, der in einer Kiesgrube verschüttet und erstickt war, nach Hause gebracht hatte. Und ohne daß die Obangerer es wußten, bohrte es an ihnen wie Ungerechtigkeit und Vorbestimmung zugleich, daß die andern drei aus dem Auto mit dem Leben davongekommen waren und der Schofför mit Tod abgehen mußte. Als wenn schlimmes Sterben und blutiges Unglück ihre und immer wieder ihre Angelegenheit sei, das trübsinnige Vorrecht der Leute von Obanger …
Birkner hieß der Obmann des Betriebsrates, der auf den Einfall kam, Geld für einen Kranz unter der Arbeiterschaft der Fabrik zu sammeln. Ein blonder Mensch mit schmalen, schwarzen Augen und schweren Händen, an deren linker zwei Finger fehlten. Er selber fuhr abends noch per Rad auf das Gut hinaus, um den Kranz zu bestellen. Blumen kaufte man in Lohwinckel auf dem Gut, wo Fräulein von Raitzold eine kleine Gärtnerei und Rosenzucht eingerichtet hatte, eine schlechthin verzweifelte und lächerliche Maßnahme, um den wachsenden Ausgaben an irgendeiner Stelle etwas Einträgliches entgegenzusetzen. Die letzten Oktoberrosen standen fröstelnd in Beeten beisammen, die Blattspitzen waren gerötet von der Nachtkälte, und die Familie der Belle Lyonaise hatte Mehltau bekommen. Es war nicht viel los mit den kleinen Binsenkörben, die Fräulein von Raitzold persönlich jeden Morgen um fünf mit Blumen vollpackte und mit der Milch zugleich nach Schaffenburg schickte. Aber zu einem Kranz für den toten Schofför langte es immerhin reichlich.
Am Sonntag mittag, nach der Messe und Predigt, als eine Promenade wohlgekleideter Bürger zur Fabrik pilgerte, um zuzusehen, wie die Arbeiter von Obanger ihren Kranz hinbrachten, war das Tor zum Fabrikshof geschlossen. Es schien auch an diesem Tag eine kühle Sonne, es war außerordentlich still, und durch das Gitter sah man drinnen ein paar Spatzen sich um Haferkörner streiten, bitterlich, als hätten sie Gold im Pferdemist gefunden. Später erfuhr man, daß Herr Profet die Schließung anbefohlen hatte. Seine Fabrik sei kein Theater, habe er gesagt. Und er könne nicht das Gesindel der ganzen Gegend bei seinem Tor ein und aus laufen haben. Wenn nachher etwas passiere, sei es keiner gewesen. Und kurz und gut, es sei seine Fabrik, und er könne öffnen und schließen, wann er es für richtig
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