Zwischenfall in Lohwinckel
sonderbar bitteren Nachgeschmack hat. Was geht der rothaarige Mensch sie an, der sich über Kolas Nachthemd lustig machte, das sie ihm angezogen hat, der ein Verhältnis mit einer Filmschauspielerin hat und indiskret genug war, darüber mit ihr, Frau Doktor Persenthein, zu reden, während sie ihm sein Frühstück gab. Sie sieht ihn ganz deutlich, diesen neuen und befremdlichen Menschen, der in ihrem Bett liegt und von ihr gepflegt werden will.
An der Ecke der Sträuchelgasse kommt ihr ein Wirbel Herbstlaub entgegengetanzt, und plötzlich, während sie in die kleine Gasse einbiegt, wird alles wieder leichter, ganz ohne erkennbaren Grund. ›Ich werde den Teig anrühren, und Jaennecke soll ihn backen‹, denkt sie, und das bezieht sich auf den Kuchen für morgen. ›Ich behalte ihn doch‹, denkt sie weiter, und damit meint sie Peter Karbon. ›Vielleicht kann er Kola nützen‹, denkt sie auch noch, aber das ist nicht ganz aufrichtig, nur eine Beschwichtigung wegen der fünfzig Mark und der Spesen für den Fremden.
So fängt es an. So betritt sie Jaenneckes hefeduftenden Laden und ordnet die Sache mit dem Kuchen. Sonntag versäumt sie die Kirche. Dienstag darf Peter Karbon zum erstenmal aufstehen.
Aber am Mittwoch geschieht etwas Außerordentliches.
Von den Insassen des verunglückten Autos war Fobianke der einzige, dessen Namen niemand kannte. Kein Sportheld, kein Gummikönig, keine Filmdiva: ein namenloser Bruder, ein stiller, toter Bruder in Tweedanzug und Ledergamaschen, ein gestorbener Mensch mit weißgebluteten Lippen, auf denen die letzte Sekunde ein Lächeln zurückgelassen hatte wie einen silbernen Jenseitsglanz. In dieser letzten Sekunde nämlich hatte der Schofför Fobianke eine große Helle und Kristallklarheit durchschritten, er war blau, blau, blau und immer leichter hinaufgestorben, hinaufgesunken, hatte etwas gehört, Glocken und doch keine Glocken, und hatte eine Gewißheit empfangen: Es ist gar nicht schwer. Es ist gar keine Angst mehr dabei. Es ist schon vorüber …
Die Schwierigkeiten fingen erst an, als Fobianke es hinter sich gebracht hatte und nichts mehr spüren konnte. Denn wohin – so fragte Doktor Persenthein den Fabrikbesitzer Profet – wohin sollte dieser tote Schofför am späten Abend in Lohwinckel gebracht werden? Persentheins hastige nächste Stunden gehörten den Überlebenden. Sein Haus war eng, die Diele klein, und ein aufgebahrter Toter im Eingang des Doktorhauses wäre eine üble Empfehlung gewesen. Herr Profet seinerseits konnte nicht daran denken, seiner sensiblen Gattin kurz vor Mitternacht einen verstorbenen Mann in die Villa zu bringen. Herr von Raitzold, der in der Halle des Gutshauses einen traditionellen Platz besaß, wo unter Hirschgeweihen die Heimgegangenen von Raitzolds jeweils aufgebahrt wurden, konnte sich nicht entschließen, einem fremden Schofför diesen Ehrenplatz einzuräumen. Vielleicht hätte er es dennoch getan, wenn er sich mit Herrn Profet um Fobianke hätte streiten müssen wie um den Boxer und die Schauspielerin. Aber auf sein Gut zu holen, was Herr Profet nicht in seine Villa nehmen wollte – nein. Er spürte dunkel, daß er nicht ganz fair gegen den Toten handle, aber er konnte sich nicht dazu überwinden. Schließlich schickte man den Schofför Müller mit seinem stummen Passagier zum Pfarrhaus, wo noch Licht zu sehen war, denn der Kaplan war ein Bücherwurm, ein fanatischer Erforscher botanischer Besonderheiten. Der alte Pfarrer war nicht zu Hause, ihn hatte kurz zuvor eine alte Bäuerin in Bickemvies zur letzten Ölung holen lassen – übrigens keine von Persentheins Patientinnen, sondern eine, die es mit dem Apotheker Behrendt und seinen Medizinen hielt. Der Kaplan prüfte die Papiere, die der ordentliche Fobianke neben dem Führerschein in der Brusttasche trug, fand, daß der Verstorbene evangelisch war, und wagte es nicht, die Entscheidung darüber zu treffen, ob diesem Wilhelm Fobianke, 47 Jahre alt, evangelisch, eine vorläufige Aufbahrung in der Sakristei zugestanden werden könne. Der Schofför Müller, selber katholisch, wenn auch nicht fromm, begriff seine Bedenken; er kannte den strengen alten Pfarrherrn und hatte noch den Schuljungenrespekt der Erstkommunionszeit in den Knochen. Es schlug halb eins vom Turm, es brannte keine einzige Laterne mehr, als er nochmals zu Profets Villa zurückfuhr und Herrn Profet zu einer Unterredung herausbat.
Herr Profet trug schon Pantoffeln und einen seidengesteppten Hausrock, und während er
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