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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baum Vicki
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Herr Müller?« fragt sie. »Der konnte nicht dabei sein. Der hat Dienst«, sagt Frau Müller leise. Sie zieht Frau Fobiankes Hand an sich und führt sie vorsichtig vom Grab fort. »Ach so – der hat Dienst –«, sagt Frau Fobianke nach ein paar Schritten und bleibt stehen. »Der hat Dienst –«
    »Er hat mit Herrn Profet nach Schaffenburg machen müssen«, erklärt Frau Müller im Dialekt. Frau Fobianke schaut rund um sich. »Wieso denn? Was ist denn los? Wie kommt denn das alles?« fragt sie, und in diesem Augenblick erst begreift sie plötzlich, was geschehen ist. Daß sie auf einem unbekannten Friedhof steht, in einem fremden Winkel von Deutschland, daß ihr Mann gestorben ist, fort, so vollständig gestorben, daß er nie mehr da sein wird. Es zerbricht etwas in ihr, dumpf von innen her, wie eine Eisdecke über einem See zerbricht. Plötzlich gibt es einen so hohen und lauten Schrei, daß alle erschrecken und zum Grab hindrängen. »Nein!« schreit Frau Fobianke: »Nein! Nein! Nein!« Sie hat nicht viele Worte, sie schreit nur »Nein!« sie wehrt sich nur. Sie ist mit drei großen, wilden Schritten am Grab, sie wirft sich hin, fast in das Grab hinein, sie krampft sich an den Kränzen fest, an Frau Müllers Rock, an den Beinen von Doktor Persenthein und schreit ihr »Nein«, ihre Verzweiflung, ihren Protest gegen alles, was geschieht. Es wird etwas ganz Irres, ganz Tierisches aus diesem Schrei, ein Lachen, ein Schluchzen, ein langes, hohes Röhren, etwas, das ansteckt. Die Männer beißen die Zähne zusammen und machen Fäuste, ohne daß sie es wissen. Die Frauen weinen. Da und dort stimmt eine in den Schrei ein, Frau Köbbele, Frau Psamatis. Auch die Gymnasiasten weinen, sie waren gestern noch Kinder, ihre Seelen sind erst dünn verschalt; in Wellen strahlt die Erregung vom Grab in Kreisen über den ganzen Friedhof. ›Psychose‹ – denkt Herr Markus, der gleichfalls weint und dem die Schreie Schauer durch die sensiblen Nerven jagen. Der Obermetteur Pank versucht seine Schwester aufzuheben, aber er ist klein, und sie hat schwere Knochen, und sie will nicht vom Grabe fort, noch lange nicht, ihre Schreie waren noch da, als schon die Glocken zu läuten aufhörten und die Obangerer in aufgewühlten Gruppen den Friedhof verließen.
    Fräulein von Raitzold war es schließlich, die sie zur Trauerkutsche brachte. Das Fräulein hatte viel aufgespeicherte Kraft in sich, einen guten Griff für Tiere und Menschen. Sie beruhigte die Witwe nicht anders, als sie ein durchgehendes Pferd beruhigt haben würde. Frau Müller, mit ihrem verweinten Gesicht einer grobgeschnitzten Holzmadonna, tat das übrige. »Laßt sie doch schreien; schreien erleichtert«, sagte das Fräulein nachher, als sie neben Doktor Persenthein durch die zertretenen Friedhofswege davonstapfte. Der Doktor war mit sich beschäftigt wie gewöhnlich und antwortete nichts. »Wer noch schreien kann, hat's gut«, sagte das Fräulein noch, nicht zu ihm, zu sich selber. Ihr Leben lag in dem einen Satz …
    Der Schrei der Witwe Fobianke aber, dieses irrsinnige ›Nein‹ blieb gewitterhaft über Lohwinckel hängen. Die Stadt war anders geworden, die Menschen waren anders geworden.
    An diesem Abend fand in Oertchens Gastwirtschaft eine Versammlung statt, bei der Pank und Birkner sprachen und alle jungen Arbeiter zum Streik drängten. An diesem Abend wurde das Quittenbäumchen in Direktor Putex' Vorgarten durchgesägt und an seinem Zaun ein Plakat befestigt, auf dem mit roter Tusche gemalt stand: ›Rache!‹.
    An diesem Abend fand man den Arbeiter Lungaus, der drei Jahre Doktor Persentheins Ideen befolgt hatte, sinnlos betrunken auf einem nassen Laubhaufen neben dem Ententümpel hinter der Kirche.
    Peter Karbon saß in dem Lehnstuhl im Wohnzimmer, er hatte das Kinn erhoben, den Hinterkopf gegen die Lehne gedrückt, und seine ausnehmend schön geformten Lippen zeigten einen merkwürdigen Ausdruck völliger Entspannung.
    »Das war hübsch – danke«, sagte er, als Elisabeth schon eine Weile zu spielen aufgehört hatte. Die Hände lagen ihr im Schoß, und sie wendete den Kopf über die Schulter zu ihm. »Mozart«, sagte sie. Sie war von Doktor Persenthein beauftragt worden, auf Karbon achtzugeben, solange die Beerdigung dauerte; da hatte sie nun Klavier gespielt, damit er die Glocken nicht hören sollte.
    »Merkwürdig, daß Sie noch Zeit zum Musizieren finden; rührend eigentlich«, sagte Peter und schaute ihren Hals an, den steilen Anstieg über dem weißen

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