Zwischenfall in Lohwinckel
Kragen und bis zum Ohr. Sie trug neuerdings ihr dunkelblaues Kleid, das gute Kleid mit der weißen Spitzengarnitur.
»Ja – Musik machen wir natürlich viel. Konzerte gibt's ja keine, und Musik muß man doch haben.«
»Muß man –?« fragte er zerstreut. »Ich höre jahrelang keine Musik, und es geht auch. Jazz, natürlich und so – aber was Sie Musik nennen würden – jetzt ist die Glocke endlich still«, setzte er noch hinzu, was ein kleines Zucken über Elisabeths linker Braue hervorrief. Da hatte er also doch die Glocken gehört –
»Gehen Sie nicht in Konzerte? Ich würde verrückt vor Freude, wenn ich solche Konzerte hören könnte wie Sie in Berlin –«
»Ja, komisch, nicht? Unsereiner kommt leichter in die Südsee als in ein Konzert.«
»Markus hat ein sehr gutes Radio, da ladet er mich manchmal ein zum Zuhören, wenn ich Zeit habe – die Matthäus-Passion habe ich gehört vorige Woche. Markus läßt sich nichts entgehen, was Berlin sendet.«
»Wer ist Markus? Ach, ich weiß, dieser komische kleine Mensch, der mich ausgefragt hat, um Berichte an Zeitungen zu schicken.«
»Ist er komisch?«
»Aber sehr. Eine richtige Type. Verkanntes Genie hinterm Heringsfaß.«
»So?« sagte Frau Persenthein. Sie hatte in den letzten Tagen allerhand Dinge in den Winkel geworfen, die ihr vorher wertvoll erschienen waren. Nun also war Markus erledigt.
»Ihr habt hier ein gutes Klima für Sonderlinge. Ihr Mann ist ja auch ein Sonderling in seiner Art.«
Elisabeth schlug einen F-moll-Dreiklang an und ließ ihn verschwingen. Die Obertöne summten noch lang und fein im Holz der alten Zimmerdecke.
»Wissen Sie das nicht?« fragte Karbon.
»Doch«, sagte sie nach einer winzigen Pause.
Es rieselte ein wenig in den Wänden, unten fuhr die Trauerkutsche durch das Angermannstor und brachte Frau Fobianke zur Fabrik zurück. Elisabeth trat an die verregneten Fensterscheiben. Karbon sah sie gerne gehen, er sah sie auch gerne, wenn sie sich nicht bewegte. Er kannte ihren Schritt, wo immer er im Angermannshaus zu hören war. Er spürte sich wohlig in seine Rekonvaleszentenmüdigkeit eingemummt wie in ein Kissen. »Ich bin an Sie gewöhnt wie an eine Kinderfrau«, sagte er hinter ihr her. Sie kam zu ihm, stand hinter dem Lehnstuhl und sah auf ihn herunter. »Geht es Ihnen gut?« fragte sie lächelnd.
»Seit ich zuletzt im Kinderwagen spazierengefahren wurde, ist es mir nicht so gut gegangen wie bei Ihnen«, sagte er, blinzelte noch ein wenig in ihr Lächeln hinauf, hielt aber nicht stand, sondern schloß die Augen wie vor zu hellem Licht. Elisabeth, über seine Augenlider gebeugt, wurde ernst. Mit einer bohrenden Aufmerksamkeit betrachtete sie sein Gesicht. Es war still im Haus und roch nach warmer Hefe, ein friedlicher Sonntagsgeruch, mitten am Dienstag. Seit dem Unfall wurde im Angermannshaus täglich etwas gebacken unter irrsinniger Hintansetzung des knappen Budgets. Es gehörte mit zu den Symptomen der Auflösung, in der sich Lohwinckel befand, daß Frau Doktor Persenthein begonnen hatte, bei Schlachter, Bäcker und Butterfrau Schulden zu machen. Das Rehle erschien an der Tür. »Fünfzig Minuten, Mutter«, meldete sie und verschwand sogleich; sie nähte Trauerkleider für ihre Puppe, weil Beerdigung war und Lungaus ihr den Haselnußkopf mit verworrenen Berichten über Frau Fobianke vollgetrommelt hatte. »Sofort, Nüßchen«, sagte Elisabeth und folgte ihr. »Hierbleiben, bitte –«, flehte Peter kindisch hinter ihr her. »Ich komme gleich – ich muß zu meinem Kuchen –«, sagte sie noch und lief davon.
Gleich danach fror Karbon ein bißchen. Daß er oft fror, kam jetzt von den Nerven, soviel hatte der Doktor klargestellt. Daß ihm jedoch warm wurde, wenn die Doktorsfrau bei ihm war, hatte keinen erkennbaren Grund. ›Morgen muß ich mich um Pittjewitt kümmern‹, dachte er, es war ein Nebenbeigedanke, der sogleich zerflatterte wie schon mehrmals. ›Ich muß den Brief an Michel fertig schreiben‹, dachte er auch noch und holte seufzend einen begonnenen Briefbogen und seine Füllfeder aus der Tasche. Michel war sein Bruder, der Seniorchef der Gummiwerke, und den Brief an ihn schob Peter nun schon seit dem Morgen vor sich her wie einen Karren voller Steine.
›- – – entnehme ich daraus, daß heute die erste Geschäftspost nachgeschickt worden ist‹, las er. ›Zuerst also muß ich Dich bitten, die Konferenz mit den Russen für mich zu verschieben, ich kann hier noch nicht fort. Daß man
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