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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baum Vicki
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aber keine Antwort. Herr von Raitzold zog eine Lade seines Pultes auf, schichtete sorgfältig seinen Expose-Entwurf hinein und nahm eine Medikamentenschachtel heraus.
    »Willst du bald essen?« fragte das Fräulein. Er schüttelte den Kopf.
    »Arbeitest du noch?«
    ›Nein‹, dachte er. ›Es hat keinen Zweck.‹ Antwort gab er keine. Das Fräulein sah zu ihm hinüber. Er schüttete ein Pulver auf einen Aschenteller, zündete an und begann angestrengt die lindernden Dämpfe einzuatmen. Er hielt die Hände an die Tischecken gekrampft, beugte sich vornüber, mit blauen Adern, Angstaugen, kämpfend um das bißchen Lebensluft. Das Fräulein trat an ihn heran und klopfte ihm den Hals wie einem Pferd.
    »Es wird gleich besser sein, Fichli«, sagte sie tröstend und nannte ihn mit dem alten Kindernamen aus den Zeiten, da sie unter den Johannisbeerbüschen gesessen hatten. Wirklich löste sich der Anfall nach einiger Zeit. Immer noch ging oben der Foxtrott.
    »Besser?« fragte das Fräulein.
    »Besser.«
    »Kommst du jetzt in den Stall?«
    »Nein.«
    »Gehst du schlafen?«
    »Nein«, sagte er und knöpfte den Rock zu.
    »Was tust du denn noch?«
    »Ich gehe nach Obanger. Ins Kino«, erwiderte Herr von Raitzold. Es war die erstaunlichste Antwort, die seine Schwester im ganzen Leben von ihm bekommen hatte. Während sie noch dastand und ihn verwundert anstarrte, öffnete er mit seiner gewohnten Bewegung die Lade des Gewehrschranks, nahm seinen Revolver heraus, steckte ihn in die rückwärtige Tasche – eine Reihe mechanischer Griffe, die er vor jedem Ausgang tat – und verließ die Stube.
    Der Dampf des Asthmapulvers blieb mit bitterem Nachgeschmack darinnen schweben.
    Um den Saal von Oertchens Gastwirtschaft zu erreichen, in dem die Kinovorstellung stattfand, mußte man einen langen, steinernen, engen Gang passieren, in dem die leeren Bierfässer standen mit feuchtem, säuerlichem Sonntagsgeruch. Am Anfang des Ganges saß vor einem Tischchen der junge Oertchen und verkaufte die Billette, es gab erste und zweite Plätze, das Geld türmte sich in einem Suppenteller aus dickem, weißem Wirtshausporzellan. Am Ende des Saales stand Herr Oertchen selber, kontrollierte die Karten und begrüßte die besseren Kreise, die sich an diesem Abend in überraschender Menge in seinem Lokal einfanden, das sonst im großen ganzen nur den Besuch der Obangerer empfing. Der Beginn der Vorstellung war für sieben Uhr angesetzt, aber schon vor halb sieben hatte sich ein ziemlich heilloses Gedränge aufgetan, und der Eingang zu Oertchens Saallokalitäten mit seinen summenden, aneinandergeklumpten, konzentrisch zuströmenden Menschen glich dem Flugloch eines Bienenstockes. Zunächst einmal fanden sich die meisten Arbeiter der Fabrik ein, sie kamen in Gruppen herangeschlendert, auch die älteren Männer waren dabei, die sonst kein Geld ins Kino trugen. Sogar den alten Werkmeister Hockling konnte man sehen, wie er vor dem ausgehängten Kasten mit Bildern stand und töricht und etwas obszön lächelnd die unterschiedlichen Standaufnahmen der Lania betrachtete. Ihre Frauen hatten sie daheim gelassen, und sie kamen heran wie zu einer Versammlung, einer Angelegenheit für Männer jedenfalls. Es sah aus, als erwarteten sie etwas Unbestimmtes, und das taten sie wohl auch. Aber sie erwarteten außerdem auch etwas Bestimmtes, eine entscheidende Nachricht aus Berlin nämlich, eine Marschroute, die ihnen der Obermetteur Pank vor seiner Abreise versprochen hatte, eine Entscheidung darüber, ob aus der eigenmächtigen und verworrenen Unordnung, in die ein Teil der jungen, radikalen Arbeiter die Fabrik gebracht hatte, ein ernsthafter Streik werden solle. Alles in allem gab das den Obangerern die verhangene und lebensdurstige Stimmung eines Abends vor der Schlacht. Etwas später fanden sich auch die jungen Arbeiterinnen ein, sie kamen in Ketten untergefaßt und kichernd daher, wie Bauernmädchen abends durch das Dorf ziehen und wie sie es in ihrem neuen proletarischen Stand und Wohnviertel beibehalten hatten.
    Herr Oertchen hatte an diesem Abend etwas Besonderes getan und aus Düßwald den Klavierspieler Roggenzahn herüberkommen lassen, ein entgleistes und vertrunkenes Subjekt, das Punkt dreiviertel sieben begann, den Hochzeitsmarsch aus dem Sommernachtstraum zu spielen, wobei er sich mit den genußsüchtig geschlossenen Augen des echten Musikanten über das alte Pianino legte und durch übermäßigen Pedalgebrauch den Holzklang der abgeleierten Tasten zu

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