Zwischenfall in Lohwinckel
Geplänkel, schließlich Streit, die Arbeiter hetzten – die Jungen dafür, die Alten dagegen –, und grade als der junge Oertchen überlegte, ob er schon bei dieser Gelegenheit die Polizei zum Eingreifen veranlassen solle, schritten die Buben zur Gewalt. Die hinten standen, schubsten unaufhaltsam nach vorn, die vorne zeigten die Fäuste, und von zwei und drei Seiten stießen sie mit ihren neuerworbenen Boxerkünsten gegen den jungen Oertchen vor. Plötzlich war ihnen der Durchbruch gelungen, der Kassentisch fiel um, der Suppenteller mit dem Geld klirrte prasselnd hinunter, und die Buben stürzten über die Verwirrung weg in den Saal, die Treppe hinauf und besetzten die Seiten der kleinen Galerie.
So kam es, daß die besseren Kreise, all diese Bürger, Beamten, Kaufleute und Rentiers, die kurz vor sieben anlangten und bei den Klängen des Donauwellenwalzers Plätze suchten, ihre Sprößlinge mit hitzigen Gesichtern über die Galeriebrüstung hängend fanden. Der Schlachter Seyfried beispielsweise, dessen Sohn etwas Höheres werden sollte, drohte ihm ganz offen mit seiner riesigen Handfläche hinauf, während Herr Profet, der mit seiner Gattin und seinem Gast, dem Boxer, eingelaufen war und nicht nur den älteren Otto, sondern auch den zwölfjährigen Paule entdeckte, wütend zu lachen begann. »Diese Schweinehunde«, sagte er, »diese verteufelten kleinen Schweinehunde – genau wie ich selber früher mal war!« Die Gattin warf einen Blick seitwärts zu ihm, einen dieser verheirateten Blicke, die besagen: ›Ach – du!‹ Franz Albert saß mit seinem sanften Engelsgesicht dazwischen und lachte zu den Buben, die seine Freunde geworden waren, hinauf.
Plötzlich gab es wesentliches Aufsehen, denn, von Herrn Oertchen persönlich geleitet, erschien der Bürgermeister Doktor Ohmann mit Frau und Tochter und nahm an der Mittelbrüstung der Galerie Platz, auf gepolsterten Stühlen, die eine Art Balkonloge vortäuschen sollten. Frau Doktor Ohmann war eine gepflegte und tratschsüchtige ältere Dame, die etwas hinkte, aber nicht gestattete, daß man es bemerkte. Bei Abendgesellschaften, die in Lohwinckel mit der limitierten Anzahl von zwölf Gästen stattzufinden pflegten, mußte man sie zum Singen auffordern. Sie war musikalisch und gab zum besten: die Rosen-Arie aus der ›Hochzeit des Figaro‹, den ›Nußbaum‹ von Schumann und den ›Lenz‹ von Hildach, drei Stücke, die sie gleicherweise schön fand. Ihre Tochter, gleichfalls musikalisch, in der Geige gründlich ausgebildet und verlobt mit jenem jungen Arzt, der den Persentheinschen Lebenshorizont so häufig verfinsterte, saß daneben, mit zu dünnen Augenwimpern, unvorteilhaft angezogen und leicht beleidigten Gesichts, wie es die Töchter allzu selbstbewußter Mütter leicht an sich haben.
Doktor Ohmann warf einen raschen Blick auf die drängend überfüllte Galerie, deren Holz vibrierte und die nicht in Einklang zu bringen war mit einer Tafel, die neben dem Eingang hing: ›Höchst zulässige Personenzahl: achtzig Personen‹. Er unterdrückte eine Bemerkung darüber, lächelte sein guterzogenes Beamtenlächeln und fragte seine Frau: »Was spielt der Mann unten?«
Der Mann spielte jetzt das Siegfriedidyll, und zwar ohne Noten und mit verträumtem Ausdruck, aber vielen hineinkomponierten Übergängen. »Das ist – Beethoven«, sagte die Bürgermeisterin entschieden. »Wagner«, murmelte die Tochter. Der Bürgermeister saß zwischen zwei Feuern, wie stets in seinem Familienleben.
Inzwischen war es fünf Minuten nach sieben geworden, und die Arbeiter, die seit halb sieben auf den Beginn warteten, begannen erst zu klatschen, dann zu trampeln. Einer rief etwas Unverständliches, dann wurde es still, dann begann das Trampeln wieder, stark und mehr vergnügt als zornig, auch die Buben auf der Galerie trampelten, so sehr, daß der Bürgermeister nochmals einen besorgten Blick auf die überlastete Holzkonstruktion warf und sich halb von seinem Sitz erhob, aber es schließlich doch für besser hielt, heute alle Verbotsübertretungen auf sich beruhen zu lassen. Der Klavierspieler Roggenzahn, dem der Kellner ein Glas Bier auf das Pianino gestellt und etwas zugeflüstert hatte, begann etwas Forsches zu spielen, das wie ein Anfang klang, aber dann erfolgte doch nichts.
Draußen vor dem Eingang nämlich schoben sich noch immer Gäste heran, die in den Saal wollten, obwohl drinnen schon alle Plätze besetzt waren und an den Wänden die Leute standen. Im Gang draußen
Weitere Kostenlose Bücher