Zwischenfall in Lohwinckel
hoffnungsloser und verzweifelter Unsinn war es, im ganzen genommen und von jeder Seite einzeln betrachtet. Nur ein Mann am Abgrund konnte sich an solche Phantastereien klammern.
»Was soll denn der Magistrat mit dem Gut anfangen, du lieber Gott?« sagte der Bürgermeister denn auch sanft. »Wir wissen ja selber nicht, wie wir unsere städtischen Schulden decken sollen.«
»Man könnte einen Musterbetrieb daraus machen mit etwas Kapital. Der Wein – die Milchwirtschaft – die Versuche mit amerikanischem Weizen – meine Schwester hat eine Blumenzucht eingerichtet –«
Da der Bürgermeister eine ablehnende Handbewegung machte, verstummte Herr von Raitzold und verließ das Pult. Er hatte ein weiches Gefühl hinter der Stirne, das kam von der Mühe mit den aufgetürmten und unverständlichen Zahlenkolonnen, die er stundenlang bearbeitet hatte.
»Meine Schwester hat eine Blumenzucht eingerichtet«, wiederholte er nochmals schwach, trat dann ans Fenster und riß es mit einer heftigen Bewegung auf. Sogleich stürzte der Abend ins Zimmer, mit dem fernen Geruch versengten Kartoffelkrautes und dem näheren Duft taunasser Nußbäume. Die Dämmerung war dunkel geworden, mit zinnfarbenen Rändern im Sonnenuntergangswinkel, alle Vögel sangen hinten im Grasgarten zugleich und verstummten zugleich. Herr von Raitzold versuchte Atem zu holen, aber es gelang ihm nicht, denn er litt seit dem Krieg an Asthma und war während der ganzen Unterredung im Kampf gegen einen Anfall, den er heraufziehen spürte. Der Brunnenschwengel knarrte im Hof auf eine ganz bestimmte Weise, es war ein tief heimatlicher Ton, der den Gutsbesitzer von der Kindheit her immer begleitet hatte. Er hatte ihn nie mit Bewußtsein gehört, aber nun, mürbe wie er war, vernahm er ihn. »Eines ist sicher: Lebendig gehe ich nicht vom Gut herunter«, sagte er zum Fenster hinaus und ohne sich umzuwenden, gleichsam, als spräche er mehr mit dem Brunnen als mit dem Bürgermeister.
»Machen Sie keinen Unsinn, Raitzold, wir werden noch überlegen, was sich tun läßt«, erwiderte rückwärts im Zimmer Doktor Ohmann; es war eine Phrase ohne jede Stichhaltigkeit, und das wußte der Gutsbesitzer auch. Plötzlich begann oben ein dünnes und verstimmtes Klavier einen Foxtrott zu spielen, einen pikant verschobenen Schlager, den die Grammophonplatten auch schon in Lohwinckel bekanntgemacht hatten, so daß die Primaner und die jungen Leute von der Post ihn auf der Straße pfiffen.
»Unser Gast«, sagte Herr von Raitzold und kehrte mit einem angestrengten Lächeln ins Konventionelle zurück.
»Ah!« erwiderte der Bürgermeister achtungsvoll. »Ja, bei uns wimmelt es jetzt von Prominenten, wie sie es in Berlin nennen. Wie geht es der Dame?«
»Danke.«
»Wir haben allerhand Unruhe in die Stadt bekommen mit diesem Autounglück«, sagte der Bürgermeister und gewann die Tür. »Die Leute sind wie verhext. Sogar im Gymnasium hat es heute nachmittag Revolte gegeben. Burhenne kam händeringend zu mir, aber ich kann ihm nicht helfen. Er wird eben lernen müssen, mit der Jugend zu gehen. Sehen Sie, so ist es, Sie haben den Besuch und das Vergnügen, und ich habe die Arbeit. Jetzt muß ich noch nach Obanger in die Kinovorstellung …«
»Eine hübsche Arbeit«, sagte der Gutsbesitzer im Offizierston. Gott allein wußte, was es ihn kostete, den Flotten zu markieren.
»Ich gehe gewissermaßen als Amtsperson. Es ist ein bißchen verdächtig da draußen. Die Arbeiter haben heute schon zum Teil die Arbeit sabotiert«, entgegnete der Bürgermeister, und damit hatte er den Hof und seinen Wagen erreicht. »Heute haben wir Mittwoch – am – warten Sie – am Sonnabend ist Magistratssitzung, ich will Ihre Angelegenheit dann nochmals zur Sprache bringen«, sagte er, während er einstieg, mit dem Gefühl, ein Diplomat zu sein und den Gutsbesitzer ein wenig von seinen finsteren, selbstmörderischen und brandstifterischen Gedankengängen abgebracht zu haben.
Das Auto schoß los, die Lichter schnitten Segmente aus dem Abend, oben zirpte der Foxtrott weiter, es klang ein wenig irrsinnig, daß die Lania immer wieder von vorne damit anfing. Als Herr von Raitzold in seine Stube zurückkehrte, fand er seine Schwester darin vor, sie hatte seine alten Uniformhosen angezogen, was auf Arbeit im Stall schließen ließ.
»Ich habe nach dem Tierarzt geschickt. Ich denke, die Zweijährige kommt heute noch mit dem Kalb. Kilker meint es bestimmt. Ich wollte dich nicht stören«, sagte sie, bekam
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