Zwischenfall in Lohwinckel
beschmutzt auf dem Boden liegend. Der Doktor, der sonst die Räume seines Hauses immer erst zu sehen bekam, wenn Elisabeth ihre Arbeit daran getan hatte, fand den Anblick reichlich trübselig und unerfreulich; allerdings kam es ihm zunächst nicht bei, daß es das tägliche und stündliche Amt seiner Frau war, diese schmutzigen Rückstände des täglichen Lebens aus seinem Weg zu räumen. Trotzdem, und während er die Treppen wieder hinaufstieg, hatte er einen Augenblick lang die Vision von Elisabeths müder Rückenhaltung, sobald sie sich unbeobachtet glaubte. Auch beim Essen nahm sie oft eine Haltung ein, die ihm stets auf die Nerven fiel: Sie hielt die Gabel in der rechten Hand und ließ die linke unter den Tisch hängen, zwischen ihre Knie. Es dämmerte ihm schwach, daß auch diese Unart in einer Übermüdung ihren Grund haben könne, aber dieser Gedankengang wurde gekreuzt und überdeckt von einem andern, der sich auf den positiven Streptokokkenbefund bei einer Patientin bezog. In seinem Ordinationszimmer stehend und auf das Glasgefäß mit den Wattetupfern trommelnd, überlegte er die Verordnung von Ölumschlägen auf die Gelenke und wandte sich dann dem Block zu. Hier fand er die Mitteilung, daß sich bei dem Kind des Kaufmanns Keitler trotz Fieber noch kein Ausschlag gezeigt habe, und darunter noch eine Zeile: ›Ich gehe ins Kino. Essen steht in der Speisekammer. Warte nicht auf mich.‹
Auch im Ordinationszimmer herrschte noch die leichte Unordnung der abgebrochenen Sprechstunde; der Doktor warf ärgerlich ein paar Sonden und Spécula in den Sterilisator und öffnete dann das Fenster, um den Menschendunst hinaus- und die dunkelnde Abendluft hereinzulassen. Er fühlte sich mehr als unbehaglich in dem verlassenen Haus, hatte aber zunächst keine Lust, diesem Gefühl abzuhelfen, sondern blieb ärgerlich vor seinem Schreibtisch sitzen, zuerst im Finsterwerden, dann im Umkreis der scharfen Lampe, die er auch zu kleinen Operationen verwendete. Schließlich kam er dazu, das ganze Unbehagen als einfachen Hunger zu agnoszieren, wartete trotzdem noch ein wenig, als wenn seine Unzufriedenheit die Kraft haben müsse, die Frau herbeizuholen, und entschloß sich dann, in die Speisekammer zu gehen.
Wirklich fand er dort einen kalten Imbiß auf einem Tablett bereitgestellt, das er mit einiger Mühe ins Wohnzimmer balancierte, in dem auch gegessen wurde. Hier aber zeigte es sich, daß der Tisch nicht gedeckt war, und Doktor Persenthein setzte sein Tablett zunächst an der Tischkante ab und dachte nach, wo Teller und Besteck zu finden sein konnten. Zwar hatte er hundertmal gedankenlos zugesehen, wie seine Frau den Abendtisch deckte, aber es war ihm niemals ins Bewußtsein gedrungen, worin Zweck und Ziel ihrer Hantierungen bestanden, so daß er ziemlich fremd mitten in seiner Wohnung stand und sich unfähig fühlte, etwas zu unternehmen, ein paar Schübe erfolglos auf- und zuzog und es schließlich aufgab, für sich zu sorgen. Dazu kam, daß ihm auch jetzt wieder etwas aus seiner Praxis durch den Kopf ging, nämlich, daß er verabsäumt hatte, den Arbeiter Hahn mit der Duodenalsonde zu untersuchen; er wanderte nochmals in sein Zimmer hinunter, notierte sich dies, schlug im Stehen das Handbuch der inneren Medizin auf, las den Passus über Gallenblasenvereiterung, blieb daran hängen und kam erst wieder davon ab, als er Schritte in der Diele hörte. Er schoß schnell hinaus, erfreut zwar, aber bereit, einige Vorwürfe zu machen, doch er traf draußen nur auf Lungaus, der in seinem Sonntagsanzug die Treppe hinaufschlurfte und dazu ein Selbstgespräch führte.
Lungaus war so in sich selber und sein heiseres Gemurmel vertieft, daß er es nicht hörte, als der Doktor ihn anrief, sondern weiter stockerte, die knarrende Holztreppe hinauf und zu seiner Kammer unter dem Dach; oben angelangt, knipste er die Treppenbeleuchtung ab, so daß Doktor Persenthein unten im Dunkel stand und sich erst nach ein paar Momenten der Überlegung entschloß, das Licht wieder aufzudrehen und Lungaus zu folgen.
Ais er die Kammer betrat, fand er sie zwar unbeleuchtet, aber erfüllt von einer schwimmenden Helligkeit, denn es fehlten nur zwei Tage zum Vollmond, und das aufgehende Licht wurde von der dünnen Wolkendecke, hinter der es stand, aufgesogen und überallhin gestreut wie von einem transparenten, ungewiß blauenden Stück Schirting. Ganz schwarz und gespensterhaft vergrößert stand Lungaus als Schatten am Fenster, die Hände auf das Fensterbrett
Weitere Kostenlose Bücher