Zwischenspiel: Roman (German Edition)
gleichen Ratlosigkeit entstammten, ähnelten sie einander, wo immer sie entstanden, und wurden so lange weitererzählt, bis niemand mehr wusste, woher sie kamen, und sie als überlieferte Wahrheit galten. So schuf der Mensch sich die Götter nach seinem Bilde, erst viele und dann einen, rachsüchtig und gütig, strafend und verzeihend, aber mächtig und allwissend, die ersten Gesetzgeber und Richter, die Ordnung in das Chaos brachten. So, Gnädigste, das in aller Kürze zu der Frage: woher kam Gott.
Ich war nicht viel klüger als vorher. So oder so ähnlich hatte ich mir die Sache schon selbst erklärt. Obwohl ich gern gewusst hätte, wie Bruno die fortdauernde Existenz Gottes trotz UNO und Menschenrechtsdeklaration begründen würde, wollte ich ihn nicht zu weiteren Darbietungen ermutigen, zumal Olga wenig Gefallen an Brunos profaner Sicht auf die Gottessehnsucht der Menschen zu finden schien. Aber dann erwachte Olga aus ihrem Schweigen, das ich wohl missverstanden hatte.
Herr Bruno, sagte sie, wenn ich Sie so nennen darf, ich kenne Ihren Nachnamen nicht, haben Sie in Ihrer letzten Stunde nicht doch eine verborgene Hintertür zum Glauben entdeckt, ein verheißungsvolles Licht im Dunkel des Nichts?
Bruno seufzte, wobei nicht zu erkennen war, ob der Seufzer Ausdruck einer wirklichen Beschwernis oder eher die Parodie eines Seufzers war.
Ach, Verehrteste, sagte Bruno, ich habe schon in meiner frühen Jugend entschieden, ob ich der Unerträglichkeit des Lebens lieber meinen Verstand oder meine Leber opfern will. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich die Leber drangegeben und den Verstand behalten, obwohl er sich kurz vor dem Ende dann auch zurückgezogen hat. Aber das Langzeitgedächtnis war noch intakt, mit anderen Worten: ich bin wissend ins Nichts getaucht wie in die Schwärze des Ozeans und war es zufrieden.
Aber jetzt sind wir doch hier, Sie und ich, sagte Olga.
Bruno trat ein paar Schritte zurück, beschirmte seine Augen mit der flachen Hand und musterte Olga ungläubig lächelnd.
Ja, wissen Sie denn nicht, dass wir unsere Anwesenheit hier nur der Gnädigsten, unserer göttlichen Ruth, verdanken? Spätestens am Abend, wenn sie diesen Park verlassen wird, liegen wir wieder stumm und starr in unseren Gruben.
In diesem Augenblick zog aus dem hinteren Teil des Parks, woher schon früher die seltsamen Geräusche zu hören gewesen waren, ein wimmernder Schrei über die weite Wiese bis zu uns, ein furchteinflößender Ton wie aus der trockenen Kehle eines Greises, zitternd und drohend. Nickis Nackenfell sträubte sich wie die Härchen auf meinen Unterarmen, er reckte die Schnauze und antwortete mit einem langen wölfischen Heulen. Noch zweimal, dreimal durchdrang der Schrei die sanfte Frühlingsluft, das Hellgrün der Birken, die weißblühenden Sträucher, und dreimal antwortete Nicki mit seinem Wolfsgeheul. Als der letzte Schrei längst zu Boden gesunken war, stand Nicki immer noch kampfbereit mit zuckenden Lefzen vor uns, ehe er sich knurrend neben mich kauerte. Dann war es sehr still im Park. Eine Weile schwiegen wir, auch Nicki beruhigte sich, und allmählich übertönte wieder Kindergeschrei und fernes Gelächter das Wispern der Blätter und unseren erregten Atem.
Was war das, fragte ich.
Bruno sagte, das müsse ich selbst herausfinden. Er aber wolle sich jetzt noch ein wenig den Wonnen seiner unverhofften Wiederbelebung hingeben. Er winkte uns flüchtig und löste sich auf in der flirrenden Sonne.
Mir dröhnten noch die unheimlichen Laute in den Ohren, die nicht geklungen hatten, als hätte ein Mensch vor Schmerz oder um Hilfe geschrien. Olga saß still neben mir und streichelte Nickis Stirn. Was hast du für schöne blaue Augen, flüsterte sie, vielleicht kennst du ja ein Geheimnis und kannst es uns nur nicht sagen. Es ist wirklich schade um die Menschen, sagte Olga zu dem Hund oder zu mir, und dann zerstob auch sie wie Staub im Wind. Ich gab Nicki noch ein Stück von der dritten Wurst, damit wenigstens er mich nicht verließ.
Von einer Sekunde zur anderen überkam mich eine große Traurigkeit wie eine dicke, düstere Wolke, die gerade vom Himmel gefallen war und mich unter sich begrub. Ich wollte aufstehen und einfach weitergehen, aber ich war zu schwach, die Last von mir zu schieben, sackte zurück auf die Bank und legte meine schwere Hand auf Nickis Kopf, um ihn am Weglaufen zu hindern. Wenn es schade um die Menschen war, dachte ich, dann war es wohl auch schade um mich, und ich fragte mich, was
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