Zwischenstation Gegenwart (German Edition)
ich mich damit herausreden, dass ich es vergessen hatte! Ich sollte das vielleicht nicht allzu oft einsetzen, aber so ab und an wäre das die Lösung für unliebsame Probleme! Überrascht stellte ich fest, dass mein derzeitiger Zustand durchaus Vorteile mit sich brachte.
»Ich wollte nicht, dass ihr euch Sorgen macht«, erklärte ich und löste mich vorsichtig aus der Umarmung meiner Mutter, um wieder Luft zu bekommen.
»Aber Kind, wir sind deine Eltern! Wer soll sich denn sonst Gedanken um dich machen, wo du doch keinen Mann an deiner Seite hast?« Ja danke noch einmal, dass sie mich darauf hinwies, dass ich es noch nicht geschafft hatte, den Mann fürs Leben zu finden. Ich gab ja wirklich mein Bestes, aber irgendwie hatte ich, was das anging, kein glückliches Händchen bewiesen.
»Ich habe Marie!«, protestierte ich.
»Und die hat mich angerufen! So und jetzt komm, mein Kind, dein Vater wartet unten auf dich. Du kommst jetzt erst mal mit uns nach Hause!« Ohne auf mich zu warten, packte sie in ihrer resoluten Art meine Tasche und ging Richtung Tür.
»Aber Mama, ich muss doch arbeiten, ich kann nicht bei euch wohnen, das ist viel zu weit weg von der Schule!«, versuchte ich einzuwerfen, folgte ihr aber dennoch über den Krankenhausflur zu den Aufzügen, die mich in die Freiheit brachten.
»Papperlapapp, Marie hat mir erzählt, dass du noch krankgeschrieben bist, und so lange lässt du dich zu Hause bei uns verwöhnen! Wäre doch gelacht, wenn du dich nicht in Kürze wieder an alles erinnern könntest!« Marie sollte sich besser warm anziehen, denn wenn ich ihr das nächste Mal begegnete, dann würde sie eine Menge zu erklären haben. Sie hatte hoffentlich gute Ausreden parat für das, was sie mir angetan hatte. In ein paar Monaten würde ich dreißig werden und was tat ich? Zog bei meinen Eltern ein! Das konnte nicht gut fürs Selbstbewusstsein sein. Aber auf der anderen Seite war es ja nicht für immer, und sich für ein paar Tage von meiner Mutter verwöhnen zu lassen, war auch nicht das Schlimmste.
Und so bezog ich mein ehemaliges Kinderzimmer im Haus meiner Eltern, welches im Gegensatz zu amerikanischen Schnulzen nicht mehr mit rosa Wänden und passender Patchworkdecke ausgestattet war. Stattdessen hatten meine Eltern es in dem Moment, in dem ich ausgezogen war, in ein schickes Gästezimmer umgewandelt und sogar mit dem Luxus eines eigenen Bads versehen. Was möglicherweise auch an der Sauna liegen konnte, der das Zimmer meines älteren Bruders Patrick hatte weichen müssen. Man konnte meinen Eltern nicht vorwerfen, dass sie den Zeiten hinterhertrauerten, als wir Kinder noch im Haus gewohnt hatten. Dennoch stand uns dreien immer die Tür offen und wir konnten jederzeit zu ihnen und waren herzlich willkommen, solange wir sie nicht von einer Reise in die Toskana oder Ähnlichem abhielten.
Längst hatte ich meine Tasche ausgepackt und war zu meinen Eltern in die große Wohnküche gestoßen, wo beide zusammensaßen und sich angeregt unterhielten, sie verstummten jedoch, als ich den Raum betrat. Konnte es ein deutlicheres Zeichen dafür geben, dass es in dem Gespräch um mich gegangen war? Auf der Heimfahrt hatte ich meinen Eltern alles erzählt, was ich wusste oder besser gesagt nicht mehr wusste. Im Unterbewusstsein hatte ich die Hoffnung gehabt, dass sie mir etwas aus meinen letzten Wochen erzählen konnten. Aber auch hier bekam ich zu hören, dass ich anscheinend sehr eingespannt gewesen war und nur wenig Zeit für sie gehabt hatte. Das klang alles sehr mysteriös. Zwar hatten Lehrer entgegen des landläufigen Klischees keinen Halbtagsjob, sondern arbeiteten Vollzeit, doch dermaßen beschäftigt, wie Marie und meine Eltern es mir schilderten, war ich bisher nie gewesen. Da musste noch etwas anderes dahinterstecken, wenn ich doch nur die Person fände, die mir sagen könnte, was ich getan hatte. Hatte ich am Ende doch ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann gehabt und mein Schuldbewusstsein war so groß, dass ich gleich einem traumatischen Erlebnis alles verdrängt hatte? Alles Grübeln brachte nichts, ich würde es vermutlich niemals herausfinden, die Ärzte im Krankenhaus hatten mir nicht viel Hoffnung gemacht. Sie sagten, es gäbe manchmal solche Fälle, in denen so etwas geschah, wüssten aber von keinem Einzigen, der sein Erinnerungsvermögen wiedererlangt hatte, was ich nicht gerade tröstlich fand. Mir blieb wohl nichts anderes übrig als mich damit abzufinden. Es waren ja auch nur zehn
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