Zwischenwelten (German Edition)
Thorje.«
»Wir gehen aber auch noch in die Schule«, sagt Ayse.
Die beiden Kinder kriegen große Augen und starren Tio und Ayse mit offenem Mund an.
»Sehen wir so alt aus?«, fragt Tio Ayse überrascht. Unsicher lächelt er Thorje und Sirje an. »Ich bin fast vierzehn, und sie ist zwölf. Wo wir herkommen, muss man in dem Alter jedenfalls noch in die Schule.«
»Aber dann … dann seid ihr auf einem Seminar!« Sirje stößt ihren Bruder an. »Das sind Studisten!«
»Was sind wir?«, flüstert Ayse Tio ins Ohr.
»Keine Ahnung«, brummt er zurück. Er beugt sich leicht zu dem Mädchen runter. »Meinst du vielleicht Studenten?«
»Studisten«, sagt nun auch Thorje. »Von einer Wissensgesellschaft. Wo seid ihr, in Terrasura?«
»Äh, nein.« Tio schüttelt den Kopf.
»In Terrasura gibt es viele Gesellschaften! Dann seid ihr bestimmt auf dem Weg dorthin.« Sirjes Augen glänzen. »Wir würden auch gerne hingehen, mein Bruder und ich. Wenn wir ganz hohe Zahlen kriegen, dann werden wir vielleicht ausgewählt.« Sie seufzt und wirft einen sehnsüchtigen Blick auf die vermeintlichen Studisten. »Thorje muss noch drei Jahre in die Schule und ich zwei. Aber vielleicht dürfen wir gar nicht weitermachen … Es sei denn, wir würden ins Ausland gehen, aber das ist viel zu teuer. Die Runji haben sehr hohe Anforderungen, und wenn du nicht die höchsten Zahlen deines Jahrgangs hast, kommst du auf kein Seminar. Nur die allerbesten salzländischen Schüler kriegen den Zugang zu mehr Wissen, und dann musst du auch noch ein sauberes Führungsheft haben.«
»Führungsheft?«, wiederholt Ayse dümmlich.
»Wenn du auch nur den kleinsten Eintrag drinstehen hast, dann kannst du das vergessen«, sagt Thorje. »Manche werden schwerer gewertet als andere. Zuspätkommen ist nur ein kleiner Eintrag, aber Frechsein und Widersprechen zum Beispiel, die sind wirklich ganz schlimm!«
»Und Thorje hat so einen«, sagt Sirje leise.
Thorje nickt betreten. »Zwei«, flüstert er. Er sieht seine Schwester mit roten Wangen an. »Du weißt doch, letzte Woche.«
»Oh, als du dich mit Frau Solda gestritten hast?«
»Es war kein Streit, ich war nur nicht einer Meinung mit ihr«, wehrt sich Thorje.
»Aber das geht nicht.« Sirje schüttelt den Kopf. »Das weißt du doch, oder?«
»Klingt ja richtig toll«, bemerkt Ayse. »Dürft ihr denn keine eigene Meinung haben?«
»Wenn du zufällig als Runji geboren worden bist, schon«, antwortet Thorje grollend. »Aber salzländische Schüler müssen nur gehorsam sein, sonst machen sie Probleme, wenn sie erst mal für ein Seminar zugelassen sind. Das wird uns beigebracht. Eigentlich hätten die Runji lieber gar keine Salzländer auf ihren Seminaren; da werden wir nur klüger, und dann haben sie nichts mehr von uns. Sie brauchen uns für alle Handwerksarbeiten, die gemacht werden müssen. Jedenfalls sagt das mein Vater. Er ist Straßenfeger in Terrasura. Das ist eine ehrliche Arbeit, sagt er, aber die Runji machen so was nicht mehr selbst, das finden sie unwürdig. Aber nicht, dass mein Vater das schön findet. Er wäre lieber Bauer.«
»Ist er das nicht mehr?«, rutscht es Ayse raus.
Thorje scheint sie nicht verstanden zu haben, doch Sirje sieht Ayse befremdet an.
»Trotzdem sind ab und zu auch Salzländer von den Runji an den Seminaren zugelassen worden. Früher haben sie das nicht gemacht, aber dann haben wir bei den großen Gebäuden, in denen die Bücher sind, die Fensterscheiben eingeworfen«, erzählt Thorje weiter, und in seinen Augen glimmt etwas Rebellisches auf.
Ayse bemerkt es und denkt, dass der arme Thorje wahrscheinlich niemals bei einem Seminar angenommen wird, denn bevor er so weit ist, wird er zweifellos noch eine ganze Reihe von Einträgen in sein Führungsheft kassiert haben.
Thorje wiegt sich vor und zurück. »Das ist schon sehr lange her, da waren wir noch nicht geboren. Aber zum Glück haben die Runji damals beschlossen, jedes Jahr ein paar Salzländer auszuwählen, die weiterlernen dürfen.«
»Sicher, um sie ruhig zu halten«, brummt Tio.
Nachdem sie sich noch eine Weile mit den Kindern unterhalten haben, finden Ayse und Tio, dass sie genug gehört haben, und verabschieden sich.
Nach wenigen Metern blicken sie sich an.
»Na«, sagt Ayse, »das wissen wir jetzt schon mal. Die Kinder gehen auf eine Grundschule in Sandb… äh … Sand. Und wenn sie sich da schrecklich gut benehmen und die allerhöchsten Zahlen kriegen …«
»Und vor allem keine Widerworte
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