Zwischenwelten (German Edition)
um noch selber Handarbeit zu verrichten. Die Runji sind nur noch damit beschäftigt, Handel zu treiben, auf der faulen Haut zu liegen und reich zu werden. Valpa kann wunderbare Holzarbeiten machen; es ist eine Schande, dass er jetzt für dieses Scheißvolk arbeiten muss.«
»Wo doch die Runji früher selbst so schöne Schnitzereien gemacht haben«, sagt Ayse leise. »Und alles aus Holz gebaut haben, ihre Boote, ihre Häuser, einfach alles.«
Nun schaut Lasje Ayse verwundert an.
»Das hab ich gelesen«, lügt sie schnell, »in einem Buch mit Bildern.«
»Ach ja, alle arbeiten heutzutage für die Runji«, sagt Lasje seufzend, dreht sich um und geht in seine Küche.
Ayse und Tio essen ihr Frühstück bis auf den letzten Krümel auf, auch wenn sie keinen großen Appetit mehr haben.
Als sie fertig sind, sagt Ayse: »Ich will nach Hause.«
Tio nickt. »Das hab ich befürchtet.«
»Mir gefällt es hier nicht mehr.« Sie steht auf. »Ich hole meinen Rucksack, bezahle Lasje – und geb ihm ein dickes Trinkgeld! –, und dann gehe ich von hier weg.« Ihr Entschluss steht fest.
Auf dem Rückweg kommen sie wieder an den Hütten von Thorpa und Sirpa vorbei. Heute scheint niemand zu Hause zu sein.
Tio und Ayse werfen noch einen Blick auf die baufälligen Holzbuden.
»Also«, sagt Tio, »das ist dann wohl das letzte Mal, dass wir hier vorbeikommen.«
Ayse beißt sich auf die Unterlippe. »Ich finde es in Salzland überhaupt nicht mehr schön. Ich werde einfach nur traurig davon. Sieh doch bloß, wie sie hier leben müssen …« Sie zeigt auf die armseligen Hütten und denkt einen Moment über die Idee nach, die ihr gerade in den Sinn gekommen ist. Dann seufzt sie, legt ihren Rucksack ab und öffnet ihn. »Ich lege unsere letzten Khansi hierhin. Komm schon, du auch. Dann kann Thorpa Ziegen kaufen und Käse machen. Das Elend in Salzland wird dadurch nicht abgeschafft, wenn es einer einzelnen Familie besser geht, das ist mir schon klar. Aber ich muss doch was tun.« Mit den letzten Khansi, die sie noch hat, geht Ayse auf den leeren Hof. Neben der im Wind flatternden Tür aus Segeltuch steht ein Tonkrug im Sand. Er ist gesprungen, und wahrscheinlich wird er nicht mehr gebraucht. Ayse legt das Geld hinein und schiebt den Krug mit dem Fuß etwas mehr in die Mitte, sodass er direkt vor dem Eingang von Thorpas und Sirpas Hütte steht. »So finden sie es sicher, wenn sie nachher nach Hause kommen.«
Tio nickt. Er wirft noch einen letzten Blick auf die schäbige Behausung, dann lassen sie den armseligen Hof hinter sich.
Tio ist Ayse nachgegangen. Mit einigen Metern Abstand und ohne dass sie es gemerkt hat. Ob sie wohl noch einmal zum Platz der Wanderbühne zurückkommt? Er hofft, dass sie nicht aufgeben will, doch ihr mutloser Blick hat alles gesagt.
Sie hat erzählt, dass sie heute Nachmittag auf ihre kleinen Brüder aufpassen muss, und ganz ehrlich hinzugefügt: »Ich weiß nicht, ob ich danach noch den Schwung hab … noch einmal nach Salzland zu gehen.«
Tio lässt seinen Blick an dem grauen Mietshaus emporwandern, in dem Ayse wohnt. Er zählt die Stockwerke. Neun. Zehn, wenn er das Erdgeschoss mitrechnet. Er sieht kleine Fenster und schmale Balkone, für einen Blumenkübel nicht groß genug, aber groß genug für einen Liegestuhl in der Sonne. Kann Ayse deshalb die Armut der Salzländer so schlecht ertragen? Und verachtet deshalb die Runji, die mit ihrem Reichtum protzen? Tio kann sich das gut vorstellen. Es kann nicht besonders schön sein, hier wohnen zu müssen. Wo hat sie wohl gespielt, als sie klein war? Auf dem Grasstreifen voller Hundekacke gegenüber? Auf dem schmalen Gehweg? In dem Treppenhaus aus Beton? Wo spielen ihre kleinen Brüder?
Sie will bestimmt nicht, dass er das sieht. Ob sie sich dafür schämt? Das muss sie wirklich nicht, aber Tio nimmt an, dass sie ihm nicht ohne Grund noch mit keinem Wort hiervon erzählt hat. Auch nicht, als sie zusammen durch das verfallene Salzland gewandert sind.
Tio dreht sich um und geht schnell zur Wanderbühne zurück. Wenn Ayse jetzt tatsächlich mit ihren kleinen Brüdern rauskäme und ihn sehen würde, wäre sie wahrscheinlich stinksauer.
Zurück auf dem Platz, geht Tio am Zuckerwattestand vorbei. Der kleine Fabian bietet ihm etwas an. Tio überlegt, schaut auf den süßrosa Flusenklumpen und schüttelt den Kopf. Am liebsten würde er eine ganze Hand voll Zuckerwattestäbe nehmen, damit zur Hütte von Thorpa und Sirpa rennen und die Süßigkeiten an die
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