Zwischenwelten (German Edition)
verrückt?«, schnauft Ayse. »Das mache ich nicht. Wir haben sie gefunden, Auftrag ausgeführt, das war’s.« Entschieden wendet sie sich vom Wasser weg. »Komm schon, wir sind hier fertig.«
»Meinst du? Ich weiß nicht recht …« Tio zögert.
»Wenn du mich fragst, wir können da nicht hin. Ich wüsste auch gar nicht wie. Und in das fiese Wasser springe ich bestimmt nicht, falls du das überlegt hast.«
»Nein, ich glaube nicht, dass wir ins Wasser springen sollten«, murmelt Tio. »Zu umständlich. Dann hast du nur nasse Klamotten.« Er lächelt Ayse unsicher an. »Aber ich möchte wetten, dass es ein geheimes Tor gibt, ein Portal, du weißt schon.«
»So was wie deine Kiste?« Ayse stemmt die Hände in die Hüften. »Mir ist es total egal, ob es hier so was gibt. Ich will einfach nur wieder nach Hause, okay?«
»Kannst du nicht noch ganz kurz warten?« Tio sieht Ayse bittend an, beinahe flehentlich. Er weiß, dass es bei seiner Mutter fast immer wirkt, wenn er diesen Blick aufsetzt und sie mit großen blauen Augen anschaut. »Ich will nur das noch rausfinden, sonst nichts, und das dauert bestimmt nicht lange.«
Ayse seufzt. »Du weißt doch überhaupt nicht, wo das sogenannte Portal sein soll, oder?«
»Ich glaube, hier am Wasser.«
»Aber das weißt du nicht.«
»Nein, aber es kommt mir logisch vor. Im Wasser siehst du die andere Welt. Deshalb glaube ich, dass da auch der Zugang ist.« Er geht ein paar Schritte an der Kaimauer entlang. »Ich schau noch ein Stückchen weiter, in Ordnung?«
Ayse antwortet nicht. Sie schweigt mürrisch und schaut Tio mit düsterem Gesicht nach. Sie sieht, wie er ab und zu einen Blick über die Kaimauer wirft, sichtlich auf der Suche nach etwas. Eine Weile bleibt sie dickköpfig stehen, bis ihr klar wird, dass Tio sich immer weiter von ihr entfernt, dass sie hier völlig allein in einem total verlassenen Städtchen steht und es fast schon dunkel ist. Sie sieht, wie er eine gemauerte Treppe zum Wasser hinuntersteigt. Sie sprintet los. »Tio, warte!«
»Ich steig hier nur schnell mal runter. Da ist so eine Stelle, wo Boote anlegen können.«
Die Treppe führt parallel zur Kaimauer nach unten, bis die Stufen im Wasser verschwinden. In der Mauer sind große Eisenringe befestigt, die ganz braun und verrostet sind. Vielleicht dienen sie dazu, dass Boote daran festmachen können. Eilig springt Ayse hinter Tio her die Steinstufen hinunter, bis sie direkt über der Wasseroberfläche steht.
Tio deutet auf das Wasser. »Wieder etwas, das überhaupt nicht sein kann.«
An der untersten Treppenstufe spiegelt das dunkle Wasser die Kaimauer und die letzten orangefarbenen Streifen am dunkler werdenden Himmel. Aber einen kleinen Schritt weiter beginnt oberhalb des Wassers eine andere Treppe. Als Ayse an der Kaimauer entlangschaut, sieht sie, dass es an der Mauer in der Welt, in der sich Tio und sie befinden, überhaupt keine zweite Treppe gibt. Ist das eine optische Täuschung?
»Wenn ich einen Schritt nach vorne mache«, wägt Tio zweifelnd ab, »falle ich dann ins Wasser, oder stehe ich auf der untersten Stufe der anderen Treppe?« Er wartet auf eine Antwort von Ayse, kriegt aber keine. »Na ja, ich komme nur dahinter, wenn ich es ausprobiere.«
»Tu’s nicht! Sonst liegst du gleich im kalten Wasser. Vielleicht gibt es hier auch eklige Tiere, Ratten oder so. Oder welche, die beißen. Oder tote Fische. In der Dunkelheit sieht man ja gar nichts. Also, ich würde … Tio!« Sie will ihn noch am Arm festhalten, aber er hat den Schritt schon gemacht, und Ayses Finger greifen ins Leere. Plötzlich ist Tio verschwunden. Ayse stößt einen erschreckten Schrei aus. Ihr Blick fällt auf die Wasseroberfläche – und da sieht sie in der Spiegelung des Wassers Tio die andere Treppe hochsteigen. Ayse stöhnt laut. Tio dreht sich um und winkt ihr zu.
Ayse stampft mit dem Fuß auf und schaut wütend auf das spiegelnde Wasser – auf Tio, der ihr gewunken hat, ihm nachzukommen. »Aber ich will nicht, ich will nach Hause!« Sie ballt die Fäuste. »Verdammt!« Sie sieht, wie sich Tio umdreht und die Treppe weiter nach oben steigt – in die neue Welt. Wenn sie ihm nicht folgt, bleibt sie in dieser menschenlosen Welt hier allein zurück. Im Dunkeln. In einer so einsamen Nacht, wie sie es noch nie erlebt hat. Und weil ihr nichts Besseres einfällt, macht sie genau wie er einen Schritt nach vorne.
Die Treppenstufe fühlt sich genauso an wie die anderen auch, und auch Ayse selbst fühlt sich
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