Zwischenwelten (German Edition)
nicht anders als sonst. Keine kalten Schauer, kein plötzlicher Windstoß, der ihr um die Ohren braust und zeigt, dass sie eine Spiegelwelt betreten hat, nichts Dramatisches.
Sie schaut hinter sich. Im Wasser sieht sie nun die gespiegelten Stufen der Treppe, die sie gerade erst heruntergekommen ist. Die Treppen liegen sich genau gegenüber, nur können sie nicht gleichzeitig betreten werden. Ayse betrachtet noch einmal die Spiegelung im Wasser und sieht jetzt eine leere Kaimauer ohne die Spiegelung von Fußgängern. Sie späht entlang den Steinen nach oben. Ein Stück weiter erkennt sie das rauchende Mädchen, das in der Welt, die sie gerade betreten hat, tatsächlich an der Mauer lehnt und raucht. Dem Anschein nach ist die kleine Stadt eine genaue Kopie des Städtchens, aus dem sie gerade gekommen sind, nur dass hier Menschen leben. Ayse schüttelt den Kopf, und mit einem Gefühl, als habe sie Blei an den Füßen, steigt sie langsam die restlichen Stufen hoch, bis sie oben an der Kaimauer auftaucht, wo Tio sie mit einem fröhlichen »Hallo« begrüßt.
»Du tust grad so, als ob du das gut findest!«
Tio will freundlich und nett sein. Er nimmt Ayse beim Arm, um ihr die letzten Stufen hoch zu helfen, doch Ayse schüttelt seine Hand mit einer mürrischen Bewegung ab. »Na gut, in welche Richtung gehen wir? Ich vermute, dass du hier rumlaufen und gucken willst«, knurrt sie.
»Ich würde schon gerne ein bisschen, äh, durch die Straßen gehen«, antwortet Tio. »Das muss aber nicht lange dauern.«
»Sehen uns die Leute eigentlich?«, fragte Ayse. Sie schaut sich um. Das rauchende Mädchen beobachtet sie mit zusammengekniffenen Augen. Sie sieht Ayse ganz bestimmt, sie grinst ihr zu. Dann kommt sie plötzlich zu Ayse und Tio herüber.
»Hallo. Ihr seid neu hier? Ich hab euch über die Treppe kommen sehen. Macht euch keine Gedanken, die Bewohner hier können das nicht sehen. Die gehören einfach ins Spiel und können den Trick selbst nicht nachmachen.«
»Spiel?«, wiederholt Ayse ausdruckslos.
Das Mädchen nickt und zeigt auf die Treppe. »Level 1 habt ihr jetzt hinter euch. Gut so! Dahin könnt ihr immer wieder zurück. In dem menschenleeren Städtchen könnt ihr essen, trinken und schlafen. Könnt ihr hier auch, aber dann müsst ihr euch benehmen wie zu Hause, also bezahlen und warten, bis ihr an der Reihe seid, und all so Sachen. Übrigens fallt ihr durch eure Kleidung auf. Aber da werden sie hier denken, dass ihr Touristen seid. Und jetzt würde ich mich unter die Leute mischen und sehen, was ihr herausbekommt. Viel Erfolg!« Sie schmeißt ihren Zigarettenstummel ins Wasser und will los. Aber mit einem Blick über die Schulter sagt sie noch zu Ayse: »Du solltest was mit deinen Haaren machen.« Dann lacht sie und geht endgültig.
Tio und Ayse blicken sich sprachlos an.
»Na, dann mal los«, sagt Tio zögernd.
Um sich spähend, geht Ayse neben Tio über den Kai. Sie achtet darauf, was die Leute, die ihnen entgegenkommen, anhaben. Die weiten Blusen scheinen hier die normale Bekleidung zu sein. Sie sind lang, reichen beinahe bis zu den Knien und werden in der Taille von einem bunten Band zusammengehalten. Die Männer tragen weiße Hemden, die Frauen Blusen in dunklen Farben: schlammig braun, dunkelgrau, auberginenviolett. Darunter werden straff sitzende Hosen getragen. Vielleicht sind es aber auch Strumpfhosen. Ayse kann sie nicht richtig sehen und traut sich nicht, stehen zu bleiben und den Menschen auf die Beine zu starren. Und alle haben kurz geschnittene Haare.
»Vielleicht ist hier kurz Vorschrift.«
Aber Tio ist an Haarschnitten nicht so interessiert. »Wollen wir diese Straße langgehen? Das ist die, in der weiter oben der Supermarkt liegt.«
Ayse nickt und trottet gleichgültig hinter ihm her.
»Die meisten Geschäfte sind noch offen«, stellt Tio fest.
»Wir können aber nichts mehr holen.«
»Wieso nicht?«
»Wir haben kein Geld, oder?«
»Ich bin neugierig, was für Münzen sie hier haben.« Tio grinst. »Vielleicht bezahlen sie mit kleinen Spiegeln.«
Aus einigem Abstand betrachtet Ayse die Leute, die einkaufen. Alles sieht so aus wie in ihrer eigenen Welt: Paare, die volle Taschen schleppen, Jugendliche, die Eis oder andere Süßigkeiten kaufen, eine Mutter mit einem quengelnden Kind, das eigentlich schon längst im Bett liegen müsste. Aufmerksam mustert Ayse das Kind. Aus der Entfernung kann sie nicht sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, aber seine langen braunen Haare werden
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